(76) Viele christliche Kreise haben jedenfalls keine Ahnung davon, welchen noch gar nicht auszumessenden Schaden sie ihrer Sache (…) zugefügt haben. Sie sehen nicht, daß in ihrer Abneigung, den christlichen Geist auch in ihr weltpolitisches Denken und Urteilen (…) eindringen zu lassen, ein tiefer Unglaube an die reale Bedeutung Christi für unsere ganze Auseinandersetzung mit Leben und Menschen zutage tritt. Ein bloßer Sonntagsglaube aber kann uns nichts nützen, wir brauchen einen Werktagsglauben, und vor allem das werktätige Volk braucht ihn, oder das Christentum wird zur blassen Gnosis und hört auf, das wirkliche Leben zu beeinflussen und all dessen Geschehen als Sauerteig zu durchdringen.
(77) Ihr aber, die ihr euern Herrn und Meister an jede dreiste Realität verschachert, die ihr zurückweicht, sobald der Anspruch des weltlichen Existenzkampfes starke Forderungen an eure Treue gegenüber dem Welterlöser stellt, ihr, die ihr mit dem Cäsar Dinge lösen wollt, die nur durch christliche Seelengröße entwirrt werden können – ihr traut euch noch die geistliche Kraft zu, das Volk zu christlichem Durchhalten in seinen Lebenskonflikten zu erziehen? (…) (78) Ist es nicht eine höchst bemerkenswerte, tragische Erscheinung der Gegenwart, daß so viele Gläubige, gerade weil sie ihr geistiges Bedürfnis so ganz in eine abseits vom Weltleben gehaltene, metaphysische (jenseitige) Provinz verlegt haben, nun in Bezug auf die Rolle geistiger Kräfte (…) weit materialistischer denken als die schlimmsten Materialisten? In allen Völkern findet man die verstocktesten Kriegstreiber und Völkerverhetzer, die wahren Materialisten des Machtwahns, auf christlicher Seite, während viele „Kinder der Welt“, eben durch ihre Vertiefung in die realen Weltgesetze, doch vor den schlimmsten und lebensfremdesten Irrungen der Machtromantik bewahrt blieben, ja sich sogar des von den Christen preisgegeben Erbgutes, wie eines ausgesetzten Königskindes, anzunehmen suchten. (…)
(79) Daher ist heute bei so vielen Christen das Denken über menschliche Konflikte und deren Lösung ungetaufter als bei vielen Ungetauften. Und darum gibt es heute nicht wenige ernste Christen, die aus Hunger nach christlicher Weltpolitik ihre christliche Zeitung mit eine sozialdemokratischen vertauschen, weil ihre anima christiana den unchristlichen Hetzton des die Nachfolge Christi vertretenen Blattes nicht mehr zu ertragen vermochte. (…)
Friedrich Wilhelm Foerster, Deutscher Friede und christlicher Friede (1917). In: Ders.: Weltpolitik und Weltgewissen, München 1919, 62-79.
Deutscher Friede und christlicher Friede
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