Zur Frage der unbedingten Gewaltfreiheit

Eine friedenstheologische Stellungnahme

Dr. James Jakob Fehr, Deutsches Mennonitisches Friedenskomitee

1. Was ist unter unbedingter Gewaltfreiheit zu verstehen? Wie weit geht sie? Welche Beispiele gibt es?

Über die Frage „Wie weit geht unbedingte Gewaltfreiheit?“ werde ich stutzig. Wir können eine logische Klärung des Begriffs vornehmen, indem wir das Gegenteil analysieren. „Bedingte Gewaltfreiheit“ wäre die Bezeichnung für ein Verbot oder eine Verzögerung der Anwendung von Gewalt, bis bestimmte ethischen Bedingungen erfüllt sind, unter denen diese Option erst zulässig wird. Wir verzichten auf Gewalt, bis gewisse (negative) Bedingungen erfüllt sind, die uns moralische Gründe aufzwingen, doch noch Gewalt auszuüben. Es ist allerdings zweifelhaft, ob sich dieser ethische Standpunkt überhaupt als „gewaltfrei“ bezeichnen lässt. Man stellt nüchtern fest: Die übliche politische Handlungsweise aller sorgfältig agierenden Regierungen ist bedingte Gewaltfreiheit. Auch das Verhalten eines bulligen Türstehers ist bedingte Gewaltfreiheit. Denn, nach diesem Verständnis ist Gewalt lediglich das letzte Mittel zur Durchsetzung eines Ziels. Der Begriff der „bedingten Gewaltfreiheit“ führt uns nicht über das übliche menschliche Verhalten hinaus. In dieser Zuspitzung wird der Begriff ad absurdum geführt.

Folglich stellt man fest, dass der Terminus Gewaltfreiheit erst dann sinnvoll wird, wenn er den unbedingten Verzicht auf Gewaltmittel bezeichnet. Ein anderer Zugang zur grundsätzlichen Frage lautet: „wie weit geht die Gewaltfreiheit?“, eine Frage, die identisch ist mit der Frage: „gibt es Bedingungen, unter denen Gewalt zulässig wäre?“. Darauf antwortet die friedenstheologisch begründete Gewaltfreiheit „nein“. Menschen, die das Wort Jesu von der Feindesliebe als Prinzip sowohl des ethischen als auch des politischen Verhaltens ernst nehmen, lehnen den Weg der Gewaltanwendung ab, selbst wenn es das eigene Leben gefährdet. Dabei geht es nicht um Nichtstun: Der Verzicht auf Gewalt ist mit dem aktiven Einsatz für alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten verbunden. Gewaltfreiheit geht aus der ganz pragmatischen Überzeugung hervor, dass die Beruhigung bzw. Deeskalierung eines nach Gewalt neigenden Streits mit Dialog beginnt und dann (wo notwendig) zu stärkeren Formen der Intervention als praktische Lösungsansätze übergeht. Ja: Die Gewaltfreiheit setzt auf Intervention! Später mehr dazu.

Die aktive (keineswegs passive!) Gewaltfreiheit unterscheidet sich in dreierlei Hinsicht von Ansätzen, die eine Gewaltanwendung als legitimes Mittel betrachten:

  1. Kausalität: Das erste Prinzip der Gewaltfreiheit ist, dass Konfliktlösung erst durch die Auseinandersetzung mit den Ursachen des Konflikts möglich wird. Der Versuch, eine Lösung durch Gewaltanwendung herbeizuführen, packt das Problem nicht an der Wurzel. Das, was augenscheinlich als Auslöser des politischen Konflikts gilt – zb. ein böser Diktator wie Saddam Hussein – erweist sich letzten Endes als offensichtlichste oder profilierteste Erscheinungsform eines viel komplexeren, gesellschaftlichen Konflikts.
  2. Zeitschiene: Während politische Meinungsführer die Entscheidung zum militärischen Eingreifen als dringliche Angelegenheit bezeichnen[1], die ohne weiteres Zögern angepackt werden müsse, sucht der Weg der Gewaltfreiheit die Komplexität der Auseinandersetzung in allen ihren verzweigten Aspekten zu begreifen. Natürlich erfordern die erprobten Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung viel Zeit, um eine langfristige Transformation einer spannungsgeladenen Situation herbeizuführen. Doch nur auf diese Weise kann man einen konstruktiven Beitrag in einem verwickelten Konflikt leisten. Ein Schnellschuss ist kein verantwortungsvolles Mittel der politischen Konfliktlösung.
  3. Strategische Mittel: Der Theologe Walter Wink verweist auf den in unserer Kultur weit verbreiteten „Mythos der erlösenden Gewalt“. Der Mythos geht davon aus, dass Gewalt eine positive Wirkung zeitigen kann und suggeriert, dass der „Böse“ in einem Konflikt nicht mit Gutem, sondern ausschließlich mit seinen eigenen (gewaltsamen) Mitteln überwunden werden könne. Der Mythos will uns überzeugen, dass Gewalt in den Händen der Guten Gutes bewirken könne. Wir halten dagegen: Die Vielfältigkeit eines groß angelegten zivilen Konflikts darf nicht auf das Zerrbild von „Guten“ und „Bösen“ reduziert werden. Die Anwendung von Gegengewalt kann den ursprünglichen Streit überrumpeln oder beenden, aber immer nur auf Kosten weiterer, Menschen verletzender Handlungen, denen eine eigene Gewaltdynamik innewohnt. Gewalt erzeugt mehr Gewalt und Folgekonflikte. Nur Gewaltfreiheit ist in der Tat fähig, alle Parteien des Konflikts in den Prozeß einzubinden und einen Konflikt so zu transformieren, dass die Ursachen des Konflikts in der Gesellschaft langfristig bearbeitet werden.

2. Worin bestehen ihre Herausforderungen aus theologischer, ethischer und politischer Perspektive? Wie ist mit diesen umzugehen?

Meines Erachtens ist die „theologische Herausforderung“ – nämlich die Schilderung einer auf Gewalt verzichtenden christlichen Theologie – hinreichend geleistet worden. Der historische Jesus handelte gewaltfrei und lehrte den Menschen in seinem Umkreis der Weg der gewaltfreien Konfliktlösung.[2]Wir sind unmittelbar herausgefordert, dem gewaltfreien Weg Jesu zu folgen. Das Problem der Jesus-Nachfolge ist kein ethisches Dilemma: Es ist die Frage, ob man willens ist, so zu leben wie Jesus es tat. Dabei gilt zu berücksichtigen: Als Individuen können wir gar nicht gewaltfrei leben, denn es gibt kein ethisches Verhalten ohne Gemeinschaft. Nur im Kontext eines Gemeinwesens (a local community) kann Gewaltfreiheit gelernt werden. Also: Wer den Weg der Gewaltfreiheit gehen will, braucht dazu eine Gemeinschaft, in der dies gelehrt und geübt wird. Später komme ich darauf zurück und nenne Beispiele von kleinen communities, die eine gelungene Antwort auf R2P bieten. (Es bleibt noch abzuwarten, wie ein politisches Gemeinwesen diese Methoden und Praktiken in der Gesellschaft umsetzen würde.)

Wenn es darum geht, mit der ethischen Herausforderung Jesu umzugehen, neigt man dazu, von einem „Dilemma“ zu sprechen. Bischoff Schindehütte sagte gestern in seinen Ausführungen: „Keiner kann sich der ethischen Dilemmata entziehen.“ … „Entweder bleibt die Kirche passiv und distanziert gegenüber ernsthaften Verletzungen der Menschenrechte (eine sündhafte Absage an ihre Verantwortung) oder die Kirche stimmt der Gewaltausübung zu und widerspricht damit ihren pazifistischen Prinzipien.“ Die Verwendung des Ausdrucks ‚Dilemma’ legt nahe, dass die einzige Alternative zur Passivität in der tragischen Notwendigkeit der Gewaltausübung bestünde. Das wäre tatsächlich ein Dilemma. – Doch gibt es weitaus mehr als lediglich diese zwei Handlungsmöglichkeiten. Im Sinne der drei oben genannten Merkmale der Gewaltfreiheit antworte ich: 1. In einem komplexen gesellschaftlichen Konflikt gibt es immer viele Handlungsmöglichkeiten, 2. das Drängen auf ein schnelles Handeln aufgrund eines vermeintlichen Dilemmas ist ein rhetorisches Mittel, um weitere Konsultation zu beenden und eine Entscheidung zur gewaltsamen Konfliktlösung zügig herbeizuführen, wo eingehende Überlegungen und mehrschichtige Analysen gefragt sind und 3. die Rede von einem Dilemma bleibt im Rahmen des Mythos erlösender Gewalt verhaftet, indem sie nur zwei ethische Kategorien bereithält – die Vielschichtigkeit des Problems wird auf ein Schwarz-Weiß-Denken reduziert. In jedem erdenklichen Entweder-Oder gibt es jedoch die Möglichkeit eines dritten Weges. Beispielsweise in Afghanistan besteht die Möglichkeit der kreativen, gewaltfreien Bearbeitung des überaus komplexen Konflikts.

Die verengten Kategorien der „ethischen Dilemmata“ führen auch dazu, dass Menschen sich mit dem Abwägen verschiedener Möglichkeiten beschäftigen, um sich der Engführung des  Dilemmas zu entziehen. In seinem Vortrag wies Lothar Brock darauf hin, dass Interpreten darüber uneinig seien, ob die Kriterien für ein militärischen Eingreifen, wie sie in der EKD-Friedens­denk­schrift festgehalten sind, im Falle Afghanistan tatsächlich erfüllt seien. Sind alle Kriterien für den Einsatz deutscher Soldaten gegeben? Sind die in der Denkschrift aufgeführten Bedingungen eindeutig erfüllt oder nicht? Darüber wird im politischen Diskurs – so Brock – gestritten und es besteht in der Sache keine einheitliche Meinung. Im Gegensatz dazu ist die ethische Anforderung der Gewaltfreiheit hell und klar. Sie zwingt mich jetzt zum Handeln und umgeht die Frage nach politischen Verantwortlichkeiten. Es gibt für mich kein ethisches Dilemma, sondern lediglich die Frage, ob ich mich für praktische Lösungen anbiete.

3. Inwieweit kann Gewaltfreiheit – bezogen auf militärische Mittel – angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage durchgehalten werden? Was bedeutet Pazifismusim Hinblick auf Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen?

Wie Paul Oestreicher dieser Tage gesagt hat: „Es ist eine politische Aufgabe, die Welt vor Krieg zu retten.“ Das Gleiche gilt für Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen. Die Gewaltfreiheit befreit uns nicht davor, uns diese Aufgabe zu stellen. Bei der Suche nach Mitteln zur Beendigung solcher Katastrophen muss man zunächst feststellen: Mit einem Gewehr in der Hand kann man keine Gewaltfreiheit praktizieren. Die Waffe in der Hand ist eine Drohung und „spricht“ somit die gleiche Sprache wie die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Wir müssen eine andere Sprache lernen.

Die Gegenfrage wäre: Kann man die weltpolitische Lage verändern, wenn man auf militärische Mittel verzichtet? Die neuere Weltgeschichte lehrt uns, dass dies durchaus möglich ist. Denken wir an „Gebet und Kerzen“ in der St. Nikolaus Kirche in Leipzig, welche 1989 die weltpolitische Lage veränderte. Gandhis Hungerstreik veränderte die weltpolitische Lage. Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung (mit ihrem explizitem Training in gewaltfreien Methoden) veränderte die weltpolitische Lage. Wir können viele weitere Beispiele nennen: die gewaltfreie Revolutionen in Tchechien und der Ukraine und Liberia (Leymah Gbowee und ihre Mitstreiterinnen) usw. Natürlich darf hier nicht verschwiegen werden, dass bei weitem nicht alle gewaltfreie Aktionen zum Erfolg führen und nicht selten geschieht es, dass Gewaltfreiheit zum Tod einiger Beteiligten führt.

Die weitergehende Frage ist jedoch: Können wir im Hinblick auf Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen einen gewaltfreien Weg einschlagen? Oder ist nicht doch die Androhung von Gewaltmitteln die einzig mögliche Reaktion, um die Lage der gefährdeten Menschen zu retten? Die Gewaltfreiheit lehnt letztere Vorstellung ab, denn es geht darum, Menschen langfristig zu schützen. Es reicht nicht, Menschen aus der Obhut eines (vermeintlich bösen) Gewaltanwenders zu befreien und diesen Menschen eine Situation auszuliefern, wo die ursprüngliche Ursache des Streites noch nicht entfernt worden ist.

Wenn der Weg der Gewaltfreiheit nicht bloß eine Konfessions- oder Herzensfrage ist, wenn es nicht lediglich darum geht, ein Gutmensch zu sein, müssen wir Wege der Intervention suchen! Denn die Frage von Responsibility to Protect (was können wir tun im Falle von Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen?) erlaubt es nicht, bloß auf langfristige Vorbeugung und Präventionhinzuweisen.

In der deutschen Öffentlichkeit ist es leider zu wenig bekannt, dass gewaltfreie Gruppen ausgebildeter Friedensakteure sich schon seit Jahrzehnten dieser Aufgabe stellen. Sie engagieren sich in Gefahrenzonen gewaltdeeskalierend und -mindernd, um lokale Bevölkerungen zu schützen bzw. begleiten. Diese Organisationen leisten praktische, gewaltfreie Einsätze an vielen Orten, wo scharf geschossen wird und die Bevölkerung gefährdet ist: Palästina, Irak, Kolumbien, Mittelamerika, Nepal, Indonesien usw. Hier ist noch reichlich Platz für den weiteren Ausbau solcher Strukturen durch Kirche und Politik.

Solche Organisationen erbringen den Nachweis, dass der Einsatz von unbewaffneten, ausgebildeten Teams die Lage von gefährdeten Populationen erheblich verbessert. Sie verfolgen (grob gesagt) zwei sehr unterschiedliche praktische Ansätze. Zum einen gibt es Gruppen, die sich parteiisch mit den Unterdrückten solidarisieren (u.a. Christian Peacemaker Teams). Zum anderen gibt es unparteiische Gruppen, die sich um den Dialog mit beiden Seiten eines scharfen Konflikts bemühen (Peace Brigades International, EAPPI). Beide Ansätze stehen im Einklang mit der Feindesliebe Jesu. Beide Ansätze erlauben es, langfristig an einem Konfliktort zu bleiben und Gewalt abzuwenden bzw. zu minimieren. Auf jeden Fall ist hervorzuheben, dass die bloße Anwesenheit kleiner Gruppen von internationalen Beobachtern einen Beitrag zum Schutz gefährdeter Populationen leistet.

4. Ist Just Policing ein Lösungsweg?

Als Lösung für das R2P-Problem wird neben dem seit Jahrzehnten erprobten Einsatz von kleinen Gruppen ausgebildeter Friedensgruppen neuerdings vorgeschlagen, Polizeieinheiten anstelle von Militärs in Regionen zu versenden, wo die Lokalbevölkerung unmittelbar an Leib und Leben bedroht wird. Gestern stellte Fernando Enns in seinem Vortrag die Frage:

„Kann eine theologisch begründete Ethik einen allein auf Gewaltabwehr und Gewaltminderung begrenzten Einsatz von nicht-tötendem (polizeilichem) Zwang legitimieren, allein zu dem Zweck, diejenigen zu schützen, die unmittelbar an Leib und Leben bedroht sind, und die zu solchem Schutz aufgerufen haben, wenn alle gewaltfreie Mittel ausgeschöpft sind?“

Der Lösungsansatz von Just Policing (gerechte Polizeieinsätze) bietet eine neue Antwort auf die Frage.[3] Just Policing geht von den drei vorgegebenen Bedingungen der R2P aus: unmittelbarer Bedrohung einer Bevölkerung, Erschöpfung aller gewaltfreien Mittel und dem Ruf der Bevölkerung nach Schutz. Das Neue dabei ist der Vorschlag, polizeilichen Zwang einzusetzen, um Gewalt abzuwehren bzw. mindern.

Als Antwort darauf merken wir nur parenthetisch an, dass schon hinterfragt worden ist, ob es eine Situation geben kann, wo alle gewaltfreien Mittel tatsächlich ausgeschöpft sind. Wie könnte man feststellen, dass dieser Zustand herrscht? Unter welchen Bedingungen wäre es nicht möglich, weitere kreativen Ansätze auszuarbeiten? (Und man kann fragen, ob der Zusatz „wenn alle gewaltfreie Mittel ausgeschöpft sind“ bedeutet, das Just Policing nicht gewaltfrei ist?)

Doch soll hier vor allem in Betracht gezogen werden, ob Polizeieinheiten geeignet sind, um bedrohte Menschengruppen zu schützen. Lobenswert am Modell ist, dass ein Weg aus der Spirale der Gewalt vorgeschlagen wird. Mit dem Begriff „polizeilicher Zwang“ weist Enns auf die in englischer Sprache übliche Unterscheidung zwischen force und violence hin. Der Einsatz von polizeilicher Gewalt zum Schutz von Mensch, Eigentum und Verkehr wird von fast allen Menschen in unserer Gesellschaft befürwortet. Wir denken nicht an violence, d.i. an böswillige, menschenverletzenden Handlungen, wenn Kinder zu einem bestimmten Verhalten erzogen werden oder wenn wir Strafzettel, Bußgeld oder gerichtliche Vorladung erhalten. Zwang (force oder coercion) ist eine anders geartete Form von Verhaltensbeeinflußung, die an und für sich nicht moralisch verwerflich ist.

Wir können einige Vorteile des Just Policing-Modells aufführen. Sie legen den Schluß nahe, dass Polizisten eher als Soldaten mit den Fachkompetenzen ausgestattet sind, die sich für R2P-Einsätze eignen:

  1. PolizistInnen lernen Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung,
  2. sie lernen, wie man in einem Konflikt deeskalierend handelt und gehen nicht unbedingt von einem „worst case scenario“ aus,
  3. der Stellenwert der Ausbildung an der Waffe ist viel geringer als beim Militär,
  4. die Art der Bewaffnung ist (traditionell) so angelegt, dass sie lediglich Einzelschußwaffen tragen
  5. sie besitzen im Gegensatz zu Soldaten in vielen Armeen der Welt das Recht auf Tötungsverweigerung und
  6. sie sind in einer rechtsstaatlichen Struktur eingebunden, wo Soldaten oft durch „Kriegsrecht“ dieser Strukturen enthoben sind.

Trotz aller Vorteile bleibt in der Perspektive einer gewaltfreien Ethik eine grundsätzliche Skepsis, die sich nicht in Fragen der Umsetzbarkeit erschöpft. Es geht hier um etwas Prinzipielles und nicht um die Frage, ob die politischen Bedingungen für groß angelegte Polizeieinsätze im Ausland verwirklicht werden können. Der Zweifel gründet auf folgenden Beobachtungen[4]:

  1. Es gibt keine klare Abgrenzung zwischen Militär und Polizei in der internationalen Rechtsordnung bzw. in den Ordnungen vieler Länder, die an solchen Polizeieinheiten teilnehmen könnten,
  2. das Training, die Bewaffnung und Vermummung von Polizeieinheiten in westlichen Ländern werden allmählich nach militärischem Vorbild ausgebaut (auch in Deutschland kann man hier an die kasernierte Bereitschaftspolizei denken),
  3. die Polizei funktioniert ausschließlich in einem gefestigten Sozialsystem mit Gesetzen, Richtern, Anwälten und polizeilichen Kontrollinstanzen, ein System, das aus der lokalen Rechtsordnung herauswachsen muss und das in einem Krisenland nach R2P-Muster gänzlich fehlt und 
  4. beim Einsatz vieler fremder Polizeieinheiten in einem kriselnden Land wird man nicht auf mitgeführte Waffen verzichten wollen: Diese Waffen werden das Verhalten im Konflikt prägen und beeinträchtigen die Möglichkeit, mit allen Konfliktteilnehmern vorbehaltlos zu vermitteln. Der Einsatz einer Waffe verletzt das Liebesgebot der christlichen Botschaft.

Fazit: Unser Bild von freundlichen NachbarschaftspolizistInnen taugt nicht für den Einsatz in einer fremden Kultur, wo Gesetz und Ordnung verlorengegangen sind. Das Konzept von Just Policing ist grundsätzlich nicht umsetzbar.

Dies ist jedoch kein Grund zum Verzweifeln, denn wie ich gezeigt habe, gibt es erprobte und erfolgreiche Ansätze für den Einsatz von gewaltfreien Mitteln in Krisengebieten: Gruppen von ausgebildeten Friedensakteuren, die in kleinen Teams solidarisch und langfristig (in abwechselnder Besetzung) mit gefährdeten Bevölkerungsgruppen zusammenarbeiten. Diese Art von gewaltfreier Intervention gibt es jetzt schon! Für die Kirchen ist kein weiteres Überlegen notwendig. Wir müssen auch nicht auf den ÖRK warten. Wir müssen nicht auf Bürokratien und Geldanträge warten. Wie die Quakers in ihrer „stillen Diplomatie“ und die Christian Peacemaker Teams in ihrem „getting in the way“ hinlänglich gezeigt haben, kleine Gruppen von überzeugten Menschen können Außerordentliches leisten. Was fehlt ist nur: Genügend weitere Personen, die von diesen Einsatzmöglichkeiten erfahren und sich bereit erklären, für einige Jahre solche Friedensdienste zu leisten – gerade an Orten, wo friedliche Interventionen immer noch fehlen.


[1] Das UN-Papier ‚Implementing the responsibility to protect’, January 2009, spricht von „collective action in a timely and decisive manner“, S. 22f.

[2] Ich nenne nur einige der prominenteren nordamerikanischen Gestalten der Friedenstheologie: John Howard Yoder, Stanley Hauerwas, Walter Wink, Willard Swartley, J. Denny Weaver, Christopher Marshall, Ted Grimsrud, et al.

[3] Siehe vor allem den Sammelband hrsg. von Gerald Schlabach: Just Peace, not War: An Alternative Response to World Violence, 2007. Schlabachs Behauptung, sein Ansatzsuche einen Mittelweg zwischen Gewaltanwendung und Gewaltfreiheit, zwischen Intervention und Verzicht, muss mit Skepsis betrachtet werden, wenn man sich erinnert, dass Gewaltfreiheit sowohl in der Theorie als auch in Praxis (Friedensakteure wie PBI, EAPPI und CPT) auf Intervention setzt.

[4] Siehe dazu Ullrich Hahn, „Die Vorstellung von ‚internationalen Polizeieinheiten’. Acht Thesen“in: Versöhnung (Heft des Internationalen Versöhnungsbundes Deutscher Zweig), 1/2013, S. 7.

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veröffentlicht in: Ines-Jacqueline Werkner, Dirk Rademacher (Hg.), Menschen geschützt – gerechten Frieden verloren? Kontroversen um die internationale Schutzverantwortung in der christlichen Friedensethik (Ökumenische Studien / Ecumenical Studies), Berlin, Münster 2013


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