Frieden machen heißt immer: Sich mit seinem Gegner verständigen wollen.

Von Martin Niemöller

[1953]

Jesus ist — ich sage Gott sei Dank — Jesus ist nicht etwa für sein Volk und Vaterland gestorben. Es gibt kein Volk und Vaterland in der ganzen Welt, für das Gott seinen Sohn hingäbe, Denn, wenn Gott kommt mit seinem vollendeten Reich, dann wird es keine Vaterländer mehr geben und dann wird es auch keine Völker mehr geben, sondern dann wird es nur noch das eine Volk Gottes geben, das aus den Menschen besteht, für die Gottes Sohn kam und starb. Es geht Gott um die Menschen, um gar nichts anderes in der Welt. Himmel und Erde werden vergehen, nur mit den Menschenkindern hat Gott einen Bund gemacht. Und dieser Bund kommt zu seiner Erfüllung und Vollendung und um dieses Bundes willen hat Gott allerdings seinen Sohn gesandt. Dafür hat er ihn den Opfertod sterben lassen am Kreuz, dafür hat er ihn von den Toten erweckt und zum Herrn gemacht über alles, was im Himmel und auf Erden und unter der Erde ist. Gott nimmt also uns Menschenkinder ernst. Gott liebt uns Menschenkinder. Wir Menschenkinder, wir in Sünde gefallenen, von Gott abtrünnigen und gegen Gott aufsässigen Menschenkinder, wir Sünder, wir sind das Wichtigste und Wertvollste für Gott in seiner ganzen Schöpfung, so wichtig und wertvoll und so hochgeachtet und so wertgeachtet, daß für uns Gott seinen einzigen Sohn und in ihm sich selber hingab.

Das ist das große Wunder! Ein Wunder ist nämlich das, worüber man sich verwundert. Und mit diesem Wunder fängt unser Glaube an, daß wir uns darüber verwundern, daß Gott um unsertwillen, um meinetwillen, seinen Sohn gab. Und wenn wir anfangen, uns darüber zu wundern, da mag es sein, daß Gott uns mit seinem heiligen Geist herumkriegt — dorthin, wo es heißt: Siehe, er betet — und dorthin, wo es heißt: Dieser ist mir ein auserwähltes Rüstzeug. Da gewinnt Gott uns Menschen für sich, für sein Reich — zum Glauben.

Das ist alles, was sich in der Kirche ereignet. Und wo sich dies nicht ereignet, da ist alles, was die Kirche tut, vergebliche Liebesmühe, auch im Jahre 1953 genau wie im Jahre 1933. (…) Wo ein Mensch zum Glauben kommt, d.h. wo es ihm zur Gewißheit wird, daß er lebt, daß Jesus Christus für ihn starb, daß Gott ihn mir zum Heiland und zum Herrn gegeben hat, in dem Augenblick fällt es mir wie Schuppen von den Augen, daß dann ja für alle anderen auch ein Heil gekommen ist, daß das ja wahrhaftig nicht allein für mich passiert ist, sondern daß es ganz bestimmt auch für dich passiert ist. Ich könnte nicht glauben, daß Jesus für mich gestorben ist — ich habe es schon so ausgedrückt — wenn ich nicht glauben müßte, daß er auch für Adolf Hitler, daß er auch für Josef Stalin oder wen wir nun gerade für einen ganz besonders schlechten und schlimmen und unheilbaren Menschen in unserem Leben gehalten haben mögen, gestorben ist.

Das ist die Botschaft, die der Kirche anvertraut ist, die Botschaft, von der wir leben, mit der wir leben und mit der wir Leben bringen und Salz und Licht der Welt sein sollen. (…) Wir haben bloß das Evangelium und weiter gar nichts. Und dies Evangelium nimmt den Menschen ernst. Und dafür haben wir allerdings als Kirche einzutreten, daß der Mensch ernst genommen wird, weil Gott den Menschen so ernst nimmt. Weil Gott den Menschen solch unglaublichen Wert beigelegt hat, daß er für die Menschen seinen einzigen Sohn hingegeben hat, deshalb hat die Kirche überall eine Verantwortung wahrzunehmen, wo der Wert des Menschen geleugnet oder mißhandelt oder unterdrückt wird, wo der Mensch mißbraucht wird. Es geht um den Menschen, den Gott liebt und den wir deshalb lieben müssen, wenn wir Christen sind, oder wir können nicht mehr glauben, daß Gott uns liebt.

Das ist der Zusammenhang zwischen der kirchlichen Liebestätigkeit und der kirchlichen Verkündigung. Von daher ist es zu verstehen, daß es solche Figuren wie Johann Hinrich Wichern, Friedrich v. Bodelschwingh usw. in der Kirche gibt und geben muß. Da steht die Kirche plötzlich in der Öffentlichkeit; denn in der Öffentlichkeit geht es um den Menschen und sobald es in der Öffentlichkeit, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur, im Fortschritt um den Menschen geht, kann die Kirche nicht sagen: „Das geht mich gar nichts an.“ Sondern wenn da der Mensch mißbraucht wird, wenn man da den Menschen behandelt wie ein wertloses Stück, das vielleicht weniger wert ist, als irgend etwas anderes, dann ist die Kirche gerufen. Dann muß sie dafür eintreten, damit dem Menschen sein Recht werde.

(…)

Ich habe nicht eigentlich Angst vor dem Krieg. Ich glaube ein ganz guter Soldat gewesen zu sein im ersten Krieg, aber ich glaube, ich war ein besserer Soldat, als ich hinter dem Stacheldraht im Konzentrationslager saß. Denn ich glaube nicht mehr daran, daß der Krieg ein Mittel ist, mit dem man den Menschen helfen kann. Wir haben das ja lange geglaubt. Der Krieg — ein Mittel, den Frieden zu gewinnen, den Frieden herzustellen! (…)

Der Krieg funktioniert offenbar nicht mehr. Und so sind wir vor die Frage gestellt als Christenheit, ob der Krieg überhaupt ein legitimes politisches Mittel ist, ob der Krieg nicht unter dem Fluch Gottes schon deswegen steht, weil er ja grundsätzlich den Menschen nicht in seinem Wert achtet, sondern den Menschen zum Mittel für andere Zwecke macht.

Ich war sehr beschämt im vergangenen Winter, als ich in Indien war, wo ich dann die letzten 14 Tage in Dehli in einem Kreis von Indern und anderen ausländischen Professoren ein Gandhi-Seminar auf Einladung der indischen Zentralregierung mitmachte.

Gandhi!

Ein Gandhi-Seminar, das sich mit der Frage beschäftigte, wie man die Ideen und die Methoden dieses Inders für die Spannung unter den Völkern und in den Völkern heute mit dem Ziel des Friedens etwa nutzbar machen könnte. Ich sage, ich habe mich gewundert und ich war eigentlich sehr tief beschämt, daß nun ausgerechnet eine heidnische Regierung mich christlichen Pastor zu solch einem Seminar einladen muß. Sie wissen, Brüder und Schwestern, wer Gandhi war:

Ein indischer Rechtsanwalt, der seine Ausbildung in England, in Oxford, bekommen hatte, der dann als junger Rechtsanwalt nach Südafrika ging und dort die Interessen seiner völkischen indischen Minderheit in Südafrika vertrat. Ein Mann, der stark vom Christentum beeinflußt war, und als er Südafrika gesehen hatte, dem Christentum entschlossen den Rücken kehrte und nach Indien in seine Heimat zurückkehrte und sich hinter die heiligen Bücher seiner Väter setzte. Der Hindu hinter die Upanishaden und hinter die Bhagavadgita und der dann der große Erzieher seines Volkes und — in diesem Fall darf man es einmal sagen — Führer, denn er war kein Verführer seines indischen Volkes, dieser 360 Millionen Menschen, die nicht wissen, was rechts und links ist, geworden ist. Und dem es darum ging, seinem Volke die Freiheit zu geben nach der kolonialen Knechtschaft von Jahrhunderten und dem es leidenschaftlich darum ging: Aber nicht mit Gewalt, nicht mit Krieg und der der Apostel der Gewaltlosigkeit wurde, der es dann fertiggebracht hat, ein Volk, das nicht lesen und schreiben kann, ein Volk, das keine Zeitungen liest und kein Radio hört, ein Volk von 360 Millionen Menschen zu einem gewaltlosen Kampf gegen die mächtigste Weltmacht von damals, gegen England, antreten zu lassen. Auf dem Wege der „noncooperation“, keine Zusammenarbeit! Wir kaufen keine englischen Waren, wir verkaufen nichts nach England oder auf englische Order, wir gehen an den Engländern vorbei, als ob sie nicht da wären, aber wir tun ihnen nichts Böses. Wir sagen nur, wir wären dir dankbar, wenn du weggingst. Wir kaufen keine englischen Textilstoffe, wir weben sie uns selber und wenn es sein muß, mit der Hand, und wir kaufen kein englisches Salz. Wir gehen an die Küste und machen Salzpfannen am Strand und machen uns das Salz selber und nehmen unseren Vorrat, den wir brauchen, mit nach Hause. Und er hat das Volk dahin gekriegt. Heute gibt es keine Hütte in Indien, wo man sein Bild nicht fände. Und immer wieder sind die Heißsporne gekommen und haben zur Gewalt greifen wollen und hier und da zur Gewalt und politischem Mord gegriffen. Und wo es geschah, da trug Gandhi es als eine Sünde seines Volkes, die er selber büßen mußte, und ging in die Einsamkeit und fastete und betete. Und dann ging es wie ein Lauffeuer durch ganz Indien: Gandhi fastet! Und er fastete so lange, bis der Aufruhr in den eigenen Reihen gedämpft war und die Übeltäter kamen und ihn unter Tränen um Vergebung baten. Und als die Zeit voll war, da zog der Engländer ab und da war Indien über Nacht eine freie Nation. Kein Kanonenschuß ist geschossen worden!

Ein heidnisches Volk muß das machen! In der Christenheit ist man auf diese Idee noch nicht gekommen, obgleich das Neue Testament voll davon ist:

„Vergeltet nichts Böses mit Bösem, sondern wenn dich jemand auf den rechten Backen schlägt, dann biete ihm den linken auch dar. Wenn dir jemand deinen Rock nehmen will, dann laß ihm auch den Mantel. Wenn deinen Feind hungert, dann speise ihn, und wenn ihn dürstet, dann tränke ihn, dann wirst du nämlich feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“

Womit der Apostel sagen will: Dann wird es ihm so heiß und ungemütlich, daß er so nicht mehr weitermachen kann. Das ist kein Nachgeben gegenüber dem Übel. Wenn ich weggehe, wenn mich einer verprügelt hat, das ist ein Nachgeben. Wenn ich dem Menschen vor Gericht meinen Rock lasse, das ist ein Nachgeben. Wenn ich ihm aber die andere Backe hinhalte, wenn ich den Mantel dazu gebe, wenn ich feurige Kohlen auf sein Haupt sammle, dann ist das ein sehr aktives Reagieren auf das Böse. Es ist nämlich der einzige Weg, um das Böse wirklich mit dem Hebel von unten zu packen und aus seiner Situation herauszubringen. Wir Christen haben das nie geglaubt, obgleich Jesus es gesagt hat, aber die Heiden haben es nun exerziert.

Ich bin sehr beschämt gewesen, weil dieses Evangelium der Gewaltlosigkeit uns nun in der Weltgeschichte von den Heiden vorgemacht wird, uns Christen, die wir das seit zweitausend Jahren besser wissen sollten.

Frieden, friedliche Mittel, keine Gewaltanwendung! Denn damit, daß wir Böses mit Bösem vergelten und Druck gegen Druck setzen, dadurch bessern wir ja nichts. Dadurch ist noch nie in der Welt etwas besser geworden. Das ist nicht nur auf der Ebene der Völker so, das kann jeder von uns im alltäglichen Leben, zu Hause, experimentiell in Erfahrung bringen. Wenn man einen großen Krach im Haus gehabt hat, weiß hinterher keiner, wie es angefangen hat. Aber damit, daß man Böses mit Bösem vergolten hat und Scheltwort mit Scheltwort, dadurch wird es dann hinterher eine große Geschichte. Und dann ist der Brand nicht mehr zu löschen. Und am Ende steht man da, neigt sein Haupt und verhüllt sein Angesicht, weil man gar nicht weiß, warum es eigentlich angefangen hat.

So geht es unter Völkern auch. Ein grober Keil treibt den anderen, und dann wird Gewalt angewendet, dann ist der Mensch ein Mittel und eine Nummer, dann wird der Mensch in seinem Wert ja nicht mehr ernst genommen. Ich weiß noch, wie mich das packte: Der erste Tag im Konzentrationslager. Ich hatte meinen Zebraanzug angekriegt und dann kam der Schneider und nähte mir unter dem roten Winkel, nein, über dem roten Winkel den weißen Lappen mit der darauf gedruckten Nummer 10364. Ich war kein Mensch mehr. Ich war bloß noch eine Nummer. Nummer! Das ist es, was aus allen Menschen wird — im Krieg. Wenn eine Stadt bombardiert wird, dann sterben dabei ja nicht Menschen, sondern es sind hinterher die vierzigtausend Nummern. Es ist unmenschlich, es ist widergöttlich, es ist antichristlich. Und wir müssen nun wirklich einmal überlegen, und die Kirche sollte dazu helfen, um der Menschen willen, ob sich nicht ein besserer, ein anderer Weg finden läßt, ein Weg des Friedens, und solange nicht geschossen wird, gibt es ja wohl noch immer Möglichkeiten.

Zwei Dinge möchte ich da ihnen, Brüder und Schwestern, gerne sagen wegen des Friedens. Frieden ist ja nun auch ein Propagandawort, mit dem wir überrollt werden, ohne daß wir uns noch etwas dabei denken. Lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, was Frieden ist. Frieden machen heißt immer: Sich mit seinem Gegner verständigen wollen. Wer sich mit seinem Gegner nicht verständigen will, der soll das Wort Frieden nicht in den Mund nehmen, denn er will den Frieden nicht und in seinem Mund ist das Wort Frieden eine Lüge. Frieden heißt, sich mit dem Gegner verständigen wollen, und wer da sagt, jawohl, ich will Frieden, aber ich will keinen Frieden mit dem, mit dem ich mich gerade zanke — aus! Und als zweites: Wenn ich Frieden will, das heißt, wenn ich mich mit meinem Gegner verständigen will, dann muß ich mich mit meinem Gegner aussprechen. Ohne dies geht es nicht. Wie soll sonst eine Verständigung zustande kommen? Das einzige Mittel, was wir haben, um uns zu verständigen, ist die Sprache. Wir müssen also miteinander sprechen. Und darum sage ich: Wer Frieden sagt, aber mit seinem Gegner nicht sprechen will, in dessen Mund ist das Wort Frieden eine Lüge. Wir sollen darauf achten, wenn wir ehrlich bleiben wollen in unserem Denken, in unseren Entscheidungen, ob die Leute, die zu uns von Frieden reden, wirklich sich mit dem Gegner verständigen wollen und ob sie wirklich mit dem Gegner sprechen wollen, aber wir sollten mißtrauisch bleiben gegen die — nicht nur gegen die, die sich nicht verständigen wollen, heute will sich schon jeder verständigen —, die nicht mit dem Gegner sprechen wollen.

(…)

Ja, damit bin ich eigentlich am Ende, liebe Freunde. Die evangelische Kirche sollte sich für den Frieden einsetzen. Sie hat es getan von 1948 bis 1951. Keine Synode ist vorübergegangen, die nicht zum Frieden, darum zur Verständigung, darum zur Aussprache unter den feindlichen Mächten geraten hätte. Es ist seit zwei Jahren still geworden. Die Kreise, die so in der evangelischen Kirche sprechen, stellen heute in der Synode der evangelischen Kirche in Deutschland keine Mehrheit dar. Das heißt nicht, daß das Unrecht wäre. Das heißt für mich lediglich, daß es sehr schade ist, daß eine große und vielleicht manche gute Gelegenheit verpaßt wird. Und es könnte heißen, daß wir eines Tages — viele Zeichen deuten ja heute schon darauf hin —, wenn nicht wir, dann unsere Kinder, wieder nach Stuttgart gehen müssen, um sich selber anzuklagen und zu sagen: Wir klagen uns selber an, daß wir nicht mutig genug bekannt, daß wir nicht fest genug geglaubt, daß wir nicht treu genug gebetet und daß wir nicht brennend genug geliebt haben.

Seht Brüder und Schwestern: Gott hat uns Christen im Ringen für den Menschen Bundesgenossen gegeben. Ich sprach von den Indern. Ich habe mich in dieser heidnischen Umgebung wirklich wie ein Bruder unter Brüdern gefühlt und ich bin überzeugt: Von diesen Heiden sehe ich, auch wenn sie niemals getauft werden, am Jüngsten Tage noch einige wieder. Und der Herr wird zu ihnen sagen:  „Kommet her zu mir, ihr Gesegneten des Herrn, denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist, und ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränkt.“ Wir werden da ja einige Überraschungen erleben — an diesem Jüngsten Tag. Und da werden viele sagen: „Haben wir nicht in seinem Namen große Taten getan, den Teufel ausgetrieben . . .“ und weiß der Teufel, was sonst noch, und er wird zu ihnen sagen: „Ich kenne euch nicht, ihr Täter der Ungerechtigkeit. Geht alle von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich nicht gespeist, und ich bin durstig gewesen und ihr habt mich nicht getränkt, und ich bin gefangen gewesen, ihr seid nicht zu mir gekommen.“ Ich sage, wir haben viele Bundesgenossen. Gott sei Dank! Und das Törichtste, was die Propaganda sich geleistet hat, war eine kirchliche Verlautbarung, Christen sollten Christen wählen. Nein, Christen sollen gar keine Christen wählen, liebe Brüder und Schwestern. Christen sollen Menschen wählen, von denen sie überzeugt sind, daß sie den Menschen helfen wollen und daß sie zu diesem Willen auch ein Können haben. Aber wenn der ganze Bundestag aus Christen bestünde, dann wäre damit noch gar nichts gewonnen, es sei denn, daß diese Christen wirklich den Mitmenschen in seiner Not sehen und daß sie auch wirklich über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um den Mitmenschen zu helfen. Wenn sie das nicht können, dann sollen sie gerne in der Kirche sitzen und in ihrem Beruf arbeiten, aber wir wählen sie nicht! Es wäre unverantwortlich, einem Menschen deshalb ein politisches Amt zu geben, weil er ein Christ ist. Dann hole ich mir lieber einen heidnischen Inder, wenn der was von der Sache versteht. Wir sind nämlich weitherzig und dürfen weitherzig sein, dürfen uns freuen über jede Hilfe, die den armen Menschen zuteil wird. Ob das Christen, Hottentotten, Mohammedaner oder Hindus sind, die da helfen. Der barmherzige Samariter war ja auch nicht ganz rein in seiner Rechtgläubigkeit und war doch der einzige, der durch das Feuer des Jüngsten Gerichtes aus dieser Geschichte unverbrannt hindurchkommen wird. Wir haben Gott sei Dank die Freiheit, das Gute anzuerkennen, wo immer es ist. Wenn Jesus sagt, selig sind die Friedfertigen, dann meint er gerade nicht: Selig sind die friedfertigen Christen. Die auch, aber er schließt die friedfertigen Heiden wahrhaftig nicht aus.

Die Kirche des Evangeliums sollte, wenn sie ihre Aufgabe ernst nimmt, so etwas sein wie ein Gewissen, ein christliches Gewissen in der Politik. Wir haben als Kirche den Drohungen zu widerstehen. Und im Osten droht die Welt. Wir haben auch den Lockungen zu widerstehen, denn bei uns im Westen lockt die Welt. Aber Brüder und Schwestern, glaubt nicht, daß die westliche Welt der Kirche Jesu Christi irgendwie freundlicher gegenüber stünde als die Bolschewisten. Bolschewisten und Demokraten — sie fragen beide: Was können wir aus der christlichen Kirche für einen Nutzen ziehen? Und wenn die christliche Kirche keinen Nutzen mehr abwirft, dann ist sie in der westlichen Welt genau so drunten durch wie in der östlichen Welt. Denn für die Kirche ist ja nur derjenige und kann nur derjenige sein, der die Botschaft glaubend hört, d. h., der zum Glauben kommt und im Glauben steht. Die Welt, die nicht glaubt, wird die Kirche nicht lieben: Die Welt ist immer gegen die Kirche. Und wer es anders denkt, der muß sich einfach das Johannes-Evangelium und die Johannesbriefe vornehmen und sich davon überzeugen. Wir leben nicht vom Wohlwollen der Welt. Wenn die Leute sagen: Wenn die Bolschewiken kommen, dann ist es aus mit dem Christentum — Gott sei Dank, das ist falsch! Oder wenn andere sagen: Wenn aber der Westen kommt, dann kommt eine große Zeit für die Kirche — Brüder und Schwestern, das stimmt auch nicht. Wir brauchen bloß mal in die Ostzone zu reisen und zu sehen: Die lebendige Kirche, wenn man solche Vergleiche ziehen kann zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland, ist bestimmt nicht in Westdeutschland, sondern sie ist dort, wo die Kirche bedrückt und bedroht wird, und sie ist nicht da, wo die Kirche unter den Lockungen und Besänftigungen einer Welt, die aus ihr ihre Vorteile zu ziehen hofft, eingeschlafen ist. Die Welt kann die Kirche nicht zerstören. Tausend bolschewistische Reiche können die Kirche Jesu nicht umbringen. Die Kirche lebt in Rußland. Davon habe ich mich überzeugt. Sie leidet, jawohl. Sie lebt in den Fußspuren ihres Meisters, und mehr ist uns auch nicht versprochen und auf mehr haben wir keinen Anspruch. Aber sie lebt, denn sie lebt von der Verheißung, daß auch die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwinden können.

Zugrundegehen kann die Kirche immer nur auf eine Art und Weise, es gibt nur eine Todesart für die christliche Kirche: Das ist der Selbstmord. Und die Kirche begeht dann Selbstmord, wenn sie ihren Glauben preisgibt und sich dafür lieber auf irgendwelche weltlichen Stützen verläßt, wenn die Kirche meint, die Welt unterstützt uns und wenn die Kirche fürchtet, die Welt wird uns kaputt machen! Wir können uns nur selber kaputtmachen, und nur dadurch, daß wir den Glauben preisgeben an den Herrn, der unser Herr ist und der von sich sagt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Mir, Jesus Christus! Wovor haben wir eigentlich Angst, wir Christenmenschen? Wir dürften ja gar keine Angst haben! (…)

Daß Christus für die Kirche, für seine Kirche und Gemeinde da ist, und das ist er, wo wir glauben, das ist die eine Sache, auf die es ankommt. Und daß darum die Kirche bei ihm, dem Herrn Christus, wahrhaft bleibt und in dem, was sie tut und läßt, sich Rechenschaft gibt vor dem Gekreuzigten, der der lebendige Herr ist, Brüder und Schwestern, da liegt unsere Verantwortung und da liegt unsere Hoffnung und wohl uns, wohl der Gemeinde Jesu Christi, die diese Hoffnung festhält, die diese Verantwortung nicht abschiebt, die sich von diesem Herrn halten und treiben läßt.

Amen.

Niemöller, Martin, Die Aufgabe der evangelischen Kirche in Deutschland. Vortrag in der Kirche in Obereisenhausen am 27. September 1953, als Broschüre gedruckt (Haupt, Weidenau (Sieg)), verantw. f. den Inhalt H.D.Dülfer, Wiera (Bez. Kassel)

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