Auf dem Weg zu gewaltfreien Lösungen. Oder: Von der Freiheit eines Christenmenschen

Prof. Dr. Gottfried Orth

Vortrag am 11. Januar 2025 bei der Tagung der Friedenswerkstatt der EKiR in Bonn

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern,

ich habe lange an Thema und Überschrift des Vortrages hin und her überlegt. In ihrer Ursprungsform (die ich mit Ulrich Frey verabredet habe und die auch noch im Programm steht: „Wie bleiben wir handlungsfähig auf dem Weg zu einer Kirche des gerechten Friedens?“) war sie mir zu kirchenlastig, denn es geht zentral nicht um die Kirche, sondern es geht um den Frieden in der Welt, es geht um diese unsere Erde: Das Ziel der Friedensarbeit von Christinnen und Christen ist ja nicht Wachstum oder Erhalt der Kirche oder die Integration der Welt in das faktisch längst vergangene corpus christianum, sondern das Ziel der Friedens-arbeit ist der Schalom für die Erde, die Humanisierung des Menschen, der neue Mensch. Oder kurz mit Franz Rosenzweig: „Gott hat nicht die Religion geschaffen, sondern die Welt.“

Wenn es um den Schalom für die Erde, die Humanisierung des Menschen, den neue Menschen geht, dann lautete für mich – eine zweite Annäherung an das Thema – die Frage: Wie bleiben wir als Christinnen und Christen, als Gemeinde, handlungsfähig auf dem Weg zu gewaltfreien Lösungen in den Konflikten, die Menschen auf Erden verursachen? Das Ziel ist der Frieden auf Erden als Freude, die allem Volk widerfahren wird – wie es im Weihnachtsevangelium heißt. Als Nebenantwort auf diese Frage geht es dann auch um die Kirche und um die Kritik einer Kirche, die Zeugnis ablegen soll von Gottes Wirken in und seinen Zielen für diese Welt.
Doch auch mit dieser zweiten Formulierung war ich nicht zufrieden, sie klingt irgendwie deprimierend: Jetzt sind die anderen so mächtig, so dominierend, wie können wir dann noch bei dem bleiben, was uns als pazifistischen Christinnen und Christen wichtig ist – als ob unsere Handlungsfähigkeit von anderen abhinge … Und dann erinnerte ich mich an André Trocmé, einen französischen Pfarrer im Widerstand gegen die Nazis: Kurz nach dem D-Day – ich meine den von 1944 – kam ein Gemeindemitglied zu ihm und sagte zu ihm: „Jetzt sind wir frei“ und Trocmé antwortete: „Frei waren wir doch immer …“. Und dann dachte ich – vielleicht ein wenig anmaßend: Lassen wir uns doch von einem Titel Luthers anstecken: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“! Lassen wir die Gefan-
genschaften unserer Kirche hinter uns und ‚lesen die Bibel und Geschichten des Christentums als befreiende Einweisung in die Welt‘. (Hans P. Schmidt). Und so heißt der Titel nun: „Von der Freiheit eines Christenmenschen …“ – Auf dem Weg zu gewaltfreien Lösungen in den Konflikten, die Menschen auf Erden verursachen.
Gehen wir also im Folgenden aus von der uns geschenkten Freiheit als Christenmenschen!
Und wenn ich so Bibel und Christentum als Einweisung in die Welt lese, hilft mir die Bibel beispielsweise auch dabei, die zu entlarven, die anders reden als sie handeln: ein Musterbeispiel von Ideologiekritik findet sich bei Jesaja: da gibt es doch tatsächlich Menschen, die von Frieden reden und doch keinerlei Interesse am Frieden haben: „Sie gieren alle“, heißt es in Jesaja 6, „sie gieren alle Klein
und Groß, nach unrechtem Gewinn, und Propheten und Priester gehen alle mit Lüge um und heilen den Schaden meines Volkes nur oberflächlich, indem sie sagen: ‚Friede, Friede!‘, wo es doch keinen Frieden gibt.“
Eine aktuelle Übersetzung dieser Analyse von Jesaja (Prophetie ist Aufdeckung dessen, was ist!) aus der ersten Hälfte der 1950er Jahre ist ein Zitat von Martin Niemöller, das ich den dann folgenden Überlegungen voranstellen möchte: 1953 formuliert Martin Niemöller in einem Vortrag – heute aktuell wie damals:
„Lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, was Frieden ist. Frieden machen heißt
immer: Sich mit seinem Gegner verständigen wollen. Wer sich mit seinem Gegner nicht verständigen will, der soll das Wort Frieden nicht in den Mund nehmen, denn er will den Frieden nicht und in seinem Mund ist das Wort Frieden eine Lüge. … Und als zweites: Wenn ich Frieden will, das heißt, wenn ich mich mit meinem Gegner verständigen will, dann muss ich mich mit meinem Gegner aussprechen. Ohne dies geht es nicht. … Und darum sage ich: Wer Frieden sagt, aber mit seinem Gegner nicht sprechen will, in dessen Mund ist das Wort Frieden eine Lüge. Wir sollen darauf achten, wenn wir ehrlich bleiben wollen in unserem Denken, in unseren Entscheidungen, ob die Leute, die zu uns von Frieden reden, wirklich sich mit dem Gegner verständigen wollen und ob sie wirklich mit dem Gegner sprechen wollen, aber wir sollten misstrauisch bleiben gegen die […], die nicht mit dem Gegner sprechen wollen.“

Wir können das Jesajazitat auch mit Blick auf den im Fernsehen übertragenen Weihnachtsgottesdienst am 22. Dezember 2024 aus einer Halle in Litauen, die mit hunderten von in Kampfanzügen steckenden Bundeswehrsoldaten besetzt war, mit Militärpfarrer und Militärbischof um eine Nuance erweitern: ‚Sie gieren alle, Klein und Groß, nach unrechtem Gewinn, und Propheten und Priester, Mili-
tärpfarrerinnen und Militärpfarrer gehen alle mit Lüge um und heilen den Schaden meines Volkes nur oberflächlich, indem sie sagen: ‚Friede, Friede!‘, wo es doch keinen Frieden gibt.“ Ich denke dabei beispielsweise auch daran, dass anstatt die Weihnachtsbotschaft des Friedens auszurichten, der Militärbischof Bernhard Felmberg gefordert hat, man müsse sich einem „Stresstest Militärseel-sorge“ unterziehen: „Es gehe um die Frage, was die Kirche im Verteidigungs-fall mache. Darauf sei die Kirche mit den derzeitigen Ressourcen nicht vorbereitet. ‚Deswegen brauchen wir einen geistlichen Plan, eine Strategie‘, sagte Felmberg. Er habe durch einen einstimmigen Beschluss der Kirchenkonferenz der EKD den Auftrag erhalten, ein Konzept für den Fall des Krieges vorzubereiten. Konkret soll es dabei etwa um die Überbringung von Todesnachrichten oder um Bestattungen gehen. Das solle nicht allein den Ortsgeistlichen, Notfall oder Krankenhausseel- sorgern überlassen bleiben.“
Mit diesen Vorüberlegungen gliedert sich mein Vortrag in drei unterschiedlich ausführliche Abschnitte: Ich nehme zunächst das Stichwort des Pilgerweges zu Frieden und Gewaltfreiheit auf; in einem zweiten Schritt beschreibe ich sechs Praxisformen auf diesem Pilgerweg und ende mit zwei Schlussüberlegungen.

Ein Pilgerweg

Ich verstehe unsere Arbeit für Gewaltfreiheit und Frieden als einen Pilgerweg. Ein Pilgerweg hin zur „Hütte Gottes bei den Menschen“, zur Realisierung der am Ende der Bibel offenbarten Verheißung: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! … Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht
mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen.
“ (Apk 21, 3 f) Das Erste, das war das, was Jesaja beschrieben hatte: „Denn jeder Soldatenstiefel, trampelnd mit Gedröhn, und der Mantel, gewälzt in Blut, soll verbrannt werden, wird ein Fraß des Feuers. Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Macht liegt auf seiner Schulter. Und er heißt Wunder-Rat, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende.“ (Jes 9)
Doch die Soldatenstiefel und die in Blut gewälzten Mäntel gingen und gehen weiter. In Lukas 1 hieß es dann: „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“, des Friedens, der seit Jesu Menschwerdung, so glauben wir Christinnen und Christen, die Leben rettende Perspektive für alle Menschen geworden ist: der Friede, der als Freude allem Volk widerfahren wird.
Das ist unser Pilgerweg immer noch inmitten von Krieg und Gewalt, dessen Ausgangspunkt feststeht und dessen Ziel klar ist und den vor uns viele Generationen gegangen sind und nach uns viele Generationen gehen werden – heute freilich „unter einem historisch wohl einmaligen Zeitdruck, dessen objektiver, naturgesetzlicher Rahmen“ nicht außer Kraft zu setzen ist. Dennoch bleibe ich bei der zusammenfassenden Beschreibung unserer Friedensarbeiten mit dem für mich hilfreichen Stichwort des Pilgerweges. Das Stichwort macht für mich auch deutlich: selbst stolpern ist ein nächster Schritt … „Manchmal“, sagte Großer Panda, „ist selbst der kleinste Schritt besser als gar keiner.“ Auf diesem Pilgerweg habe ich mit Stefan Zweig und unzähligen ökumenischen Gruppen angenommen, dass „viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, das Gesicht der Welt verändern können“ – und ich habe angenom- men, dass dies ein Prozess ist, der nahezu unumkehrbar an das Ziel führt. Und ich habe in den letzten Jahren erfahren und gelernt: Jetzt bin ich in der Wüste.
Diese Wüstenerfahrung war mir und – ich wage mal diese Behauptung – meiner Generation bisher fremd. Ich lebte weitgehend in einer kleinen Oase. Und jetzt rede ich von „wir“: Dass wir eine solche Niederlage der Re-Militarisierung unserer Politik und Gesellschaft inklusive der Kirchen erleiden, einhergehend mit demo-kratiefeindlichen und zumindest faschistoiden Machtverteilungen durch die
AfD, hätte ich nicht geahnt. Wir haben eine Niederlage erlitten und wir müssen nun m. E. lernen, dass wir denen, die im Moment sich als Sieger wähnen, nicht damit begegnen, dass nun wir siegen wollen. Wir – und das ist das erste – müssen raus aus der Gewinner – Verlierer-Semantik. Denn, das wusste schon Kassandra in Christa Wolfs gleichnamigem Roman: „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Welt bestehen.“ Kassandra kannte keinen, der dies konnte, doch sie kannte auch die menschliche Natur, wie sie freimütig bekannte, nicht genug; Christa Wolf ließ Hoffnung.
Wie kann das gehen: eine Niederlage wahrnehmen und im Umgang mit ihr nicht siegen wollen?
In einer ersten Antwort in Form einer Gegenfrage hat Jürgen Ebach dazu seiner-zeit 1986/87, als die Friedensbewegung und die Anti-Startbahn-West-Bewegung verloren hatten, folgendes formuliert: „Umgang mit Niederlagen, d. h. ja wohl auch: Wie wünsche ich mir die Niederlage der Feinde? Geht es um das Ende des Feindes oder um das Ende der Feindschaft? Geht es darum, dass endlich die Richtigen siegen oder dass endlich das Siegenmüssen aufhört? Konversion und nicht Vernichtung ist das Ziel der Friedenspraxis.“ Ich komme darauf zurück.
Ich formuliere zunächst eine zweite Antwort auf die oben gestellte Frage: Wie kann das gehen: eine Niederlage wahrnehmen und im Umgang mit ihr nicht siegen wollen? Dazu suche ich eine Hilfe in einer Erfahrung, die Etty Hillesum, die junge jüdische Intellektuelle, die in Auschwitz ermordet wurde, in ihrem Tagebuch so beschrieben hat:
In mir drin ist ein sehr tiefer Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber öfter liegen Steine und Schutt auf diesem Brunnen, dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden.
Ich kontrastiere diese Erfahrung mit einem anderen kleinen Text; er stammt von Magda Trocmé. Etty Hillesum und Magda Trocmé waren auf dem gleichen Pilgerweg in freilich ganz anderen und unterschiedlichen Situationen unterwegs. Ich habe den Namen Trocmé schon ganz zu Beginn des Vortrages erwähnt. Ich arbeite zur Zeit an einem Forschungsprojekt zur résistance spirituell, dem
christlichen Widerstand in Frankreich während der Jahre 1940-1944 gegen die deutsche Besatzung und das Vichy-Regime. Da gab es eine Kirchengemeinde und ein Pfarrfamilie André und Magda Tromé mit ihren Kindern in Le Chambon sur Lignon in den Cevennen, das ganze Dorf mittlerweile geehrt als „Gerechte unter den Völkern“, weil sie zwischen 3000 und 5000 jüdische Frauen, Männer und Kinder gerettet haben. Jetzt zu dem Zitat von Magda Trocmé: Es waren zwei Sätze, die Magda Trocmé handschriftlich auf Karten geschrieben hat – eine für jedes Kind und jedes Enkelkind. Nach ihrem Tod 1996, wurden die Karten verteilt, und alle lasen denselben Text: „In uns fände sich nicht ein Ideal, eine Hoffnung, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe, das wir alle in uns spüren, egal, welcher Religion oder Kultur wir angehören, wenn es nicht irgendwo eine Quelle der Hoffnung, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Liebe gäbe. Diese Quelle ist es, die ich ‚Gott‘ nenne.“ (…)
Gott wieder auszugraben, das würde bedeuten, diese Quelle der Hoffnung, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Liebe wieder auszugraben, damit wir handlungs- und das heißt: widerstandsfähig bleiben …


Doch wie könnte das gehen: den unter Schutt begrabenen Gott auf unserem Pilgerweg wieder auszugraben? Ich denke, es ist eine gemeinsame Praxis und deren gemeinsame Reflexion nötig, die eine neue Sicht der Wirklichkeit ermög-lichen. Dazu die folgenden sechs Stichworte:
1. klagen
2. weinen
3. Fürbitten beten
4. Gott will, dass allen Menschen geholfen werde,

und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen
5. sich zeigen
6. glauben.

Sie haben es gemerkt, es geht immer um Verben, um Tun-Wörter, wie ich in der Grundschule gelernt habe.


Klagen
Die Klage als Form des Gebetes, vor allem im gottesdienstlichen Zusammenhang ist weitgehend verloren gegangen. Wir haben es verlernt, als einzelne und als Gemeinde, unsere Klagen – und Klage ist immer auch Ausdruck von Zorn – vor Gott zu bringen, unser Leiden an Niederlagen im Gebet auszusprechen und so in der Hoffnung auf Gottes Wirken Befreiung zu erfahren. Christinnen und Christen in anderen Kontexten der Erde haben dagegen die Klagepsalmen neu entdeckt und eine Sprache gefunden, die es ihnen ermöglicht, mit den eigenen Erfahrun-gen von Niederlagen vor Gott umzugehen. Dazu zwei Beispiele.
Vielleicht kennen Sie die Psalmdichtungen von Ernesto Cardenal (Nicaragua) oder von Zephania Kameeta (Namibia) oder Bonhoeffers Psalmbüchlein: Da stehen Klagen und Loben unvermittelt und unlösbar nebeneinander wie in den Psalmen des Alten Testamentes. Die Klage geht über in das Lob. So heißt es in einer Übertragung des Psalm 22 von Ernesto Cardenal und wir können es hören als sprächen es heute wir Pazifistinnen und Pazifisten:
‚Mein Gott, mein Gott – warum hast du mich verlassen? Ich bin zur Karikatur geworden, das Volk verachtet mich. Man spottet über mich in allen Zeitungen.‘
So beginnt Cardenal seine von mir leicht veränderte Übertragung des 22. Psalms und er endet mit folgenden Zeilen:
‚Aber ich werde meinen Geschwistern von dir erzählen. Auf unseren Versamm- lungen werde ich dich rühmen. Inmitten eines großen Volkes werden meine Hymnen angestimmt. Die Friedensmacherinnen und Friedensmacher werden ein Festmahl halten. Das Volk, das noch geboren wird, unser Volk, wird ein großes Fest feiern.‘
So findet das individuelle Leiden in der Klage eine universale Sprache. „Sich an Gott in der Klage wendend“, ihn ausgrabend, „ergreift der Mensch die größte Intensität des Lebens, die möglich ist,“ schreibt Dorothee Sölle: „Er leidet, er lobt.“ Die Klage lebt von der Hoffnung, die es zu loben gilt. Was lerne ich aus diesen Klagen, von denen ich ja nur andeutend gesprochen habe:

  1. Die Erfahrung von Niederlagen findet eine Sprache und wird ausgesprochen. Die Mauer des Schweigens oder des Spottes,welche Sieger um Besiegte ziehen, wird durchbrochen. Klage deckt auf; sie ist die elementarste Form des Widerstandes.
  2. Solche politische Spiritualität wird nicht zum „Opium“, führt nicht zur Flucht aus den Konflikten, sondern stellt sich der Auseinandersetzung.
  3. Der unter dem Schutt der deutschen Militärs und ihrer Geistlichen begrabene Gott wird angerufen: „Warum schweigst du Gott? … Erwache – hilf uns, den Friedensmacherinnen und – machern – um deines Namens willen.“ „Arrogante“ Militärs und ihre Militärpfarrer und Militärpfarrerinnen, die es besser wissen könnten, „denken, sie seien allmächtig und ewig. Aber
    sie sind nur ein Atemzug, sie wiegen leichter als der Wind.“
  4. Gott wird in der Klage angerufen als Anwalt der Pazifistinnen und Pazifisten, als ihr Retter und ihre Zuflucht. … Und indem sie sich diesem Anwalt anvertrauen, gewinnen wir Friedensmacher und Friedensmacherinnen die Stärke, um zu widerstehen. Wir gewinnen das Selbstvertrauen, das uns geraubt werden soll, zurück. So wird die Klage zum Ursprung des Widerstandes gegen militärische Gewalt und ihre Sanktionierung durch die
    Kirchen, die sich am Busen der Militärs zu Tode frieren.

Aufmerksam geworden durch solche ökumenischen Erfahrungen habe ich vor zwei Jahren in Erfurt einen Gottesdienst mit Pfarrerin Höppner erlebt, in dem diese statt eines Sündenbekenntnisses eine Klage formuliert hat. Ich habe diese Klage als Stärkung erfahren, weil sie mich nicht klein gemacht hat, sondern weil sie geprägt war von der Hoffnung auf Gottes Wirken. Dazu eine Überlegung von Derk Stegeman aus den Niederlanden: Klagen und „Trauerarbeit sind nötig, weil alle schweigen aufgrund der Ohnmacht, die wir den Anforderungen gegenüber empfinden. Wenn wir diese Trauerarbeit nicht ernst nehmen, wird es böse über uns kommen. Wenn wir den Schmerz nicht äußern und miteinander teilen, werden Angst und Verkrampfung den Weg in Richtung neuer Erzählungen und Visionen blockieren. Trauerarbeit kann die Bilder und Selbstbilder, die wir haben, auf eine Zukunft hin aufbrechen. Wenn wir in der Lage sind, diesen Schmerz zu benennen und ihm einen Ort zu geben, machen wir vielleicht einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer neuen Gemeinschaft, einem neuen ‚Wir‘. … Der Hoffnung eine Gestalt geben ist dringend notwendig in der blauen Leere eines Europas, das immer ängstlicher, immer unsicherer und immer misstrauischer wird.“ Die Älteren unter uns erinnern vielleicht das Buch über „die Unfähigkeit, zu trauern“ mit dem Untertitel „Grundlagen kollektiven Verhaltens“, das Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 veröffentlicht haben – die Parallelen zu der Aussage von Derk Stegemann sind frappierend, auch wenn die Ausgangssituationen gänzlich verschieden sind.

Weinen
Wer sich im Neuen Testament einlässt auf das Stichwort „Weinen“, findet in den Evangelien wie bei Paulus oder der Apokalypse ganz unterschiedliche Situationen, in denen Menschen weinen, ebenso wie ganz unterschiedliche Formen des Weinens. Weinen ist ein Thema und eine Praxisform der urchristlichen Ge- meinden. Weinen ist Handeln aus Ohnmacht. Und so kommt es darauf an, „wirklich zu weinen, wenn einem oder einer zum Heulen ist, und sich der Trä-
nen nicht zu schämen – vielleicht werden sie in Freudentränen verwandelt“. „Und vielleicht“, so Klaus Wengst, „sind Tränen der wichtigste Beitrag der Gemeinde, die sich nicht in Macht verstricken will und ihre Ohnmacht bewusst annimmt“, der wichtigste Beitrag „für eine Welt, die von Machtkämpfen und Machtsucht zerstört zu werden droht“. Mit der Frage nach dem Weinen als Handlungsform der Ge-meinde, ist also zugleich mit einer solchen Praxis die Frage nach dem Ort von Kirche und Gemeinde gestellt. Ist sie Teil des konstantinischen Kartells oder ver-steht sie sich als freie, Christus, dem Friede-Fürsten nachfolgende Gemeinde, der zum Heulen zumute ist und die weint angesichts möglichst weitgehender Re-militarisierung von Gesellschaft und Politik als der Absicherung von Ökono-misierung und Monetarisierung aller Beziehungen?
Diese Frage nach dem Ort der Kirche – nur als Zwischenbemerkung – wird für mich immer entscheidender. Auch hier lerne ich gerade viel von der résistance spirituell im Frankreich der 1940er Jahre. Die Faculté libre de théologie in Mont-pellier, wo ich ein Studienjahr Anfang der 1970er Jahre studieren durfte, war als Ganze der résistance in ihrem teils gewaltfreien teils militärischen Teil beige-
treten. In Deutschland seinerzeit hat meines Wissens keine theologische Fakultät auch nur erwogen, als Ganze der Bekennenden Kirche beizutreten, die ja nun nicht einmal auch nur annährend eine Widerstandsgruppe war …
Doch wir sind beim Weinen als Handlungsform einer christlichen Gemeinde, die sich nicht in Macht verstricken will und ihre Ohnmacht bewusst annimmt. Zu dieser Perspektive noch zwei Zitate.
Das erste stammt von dem chinesischen Theologen Choan-Seng Song: „Herr hilf, dass wir nicht zu tränenlosen Statuen werden! So sollte unser Gebet lauten. Tränen sind Zeichen der Lebendigkeit; sie bringen der Welt das Leben zurück. Tränen entspringen einem Herzen voll Liebe; sie geben der menschlichen Gemeinschaft ihre Liebesfähigkeit wieder. Tränen nehmen Gestalt an in Schreien und Kämpfen um Gerechtigkeit (und Frieden); sie lassen die Seele unseres Jahrhunderts wieder aufleben in Erwartung einer Zukunft. Und es sind diejenigen Menschen, die zu Tränen fähig sind, die Hoffnung auf menschliche Gemeinschaft und auf die Zukunft unserer Welt entstehen lassen.“
Und das zweite ist ein Gedicht von Dorothee Sölle, das für sie eine besondere Bedeutung hatte:
„Gib mir die gabe der tränen gott // gib mir die gabe der sprache //
Führ mich aus dem lügenhaus // wasch meine Erziehung ab
befreie mich von meiner mutter tochter // nimm meinen schutzwall ein
schleif meine intelligente burg // Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache // Reinige mich vom verschweigen
gib mir die wörter den neben mir zu erreichen
erinnere mich an die tränen der kleinen studentin in göttingen
wie kann ich reden wenn ich vergessen habe wie man weint
mach mich nass // versteck mich nicht mehr // Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache // Zerschlage den hochmut mach mich einfach
lass mich wasser sein das man trinken kann
wie kann ich reden wenn meine tränen nur für mich sind
nimm mir das private eigentum und den wunsch danach
gib und ich lerne geben // Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache // gib mir das wasser des lebens.

Fürbitten beten
Zur Klage und zum Weinen gehört als dritte Handlungsform die Fürbitte: „Fürbitte ist der spirituelle Widerstand gegen das, was ist, im Namen dessen, was Gott verheißen hat.“ Dabei geht jede Fürbitte davon aus, dass – wie die Quäker dies nennen – in jedem Menschen „etwas von Gott“ ist – ein Gedanke, dem auch Dorothee Sölle nahestand. Er drückt auch das aus, was Magda Trocmé wichtig war
und was ich anfangs zitierte: „In uns fände sich nicht ein Ideal, eine Hoffnung, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe, das wir alle in uns spüren, egal, welcher Religion oder Kultur wir angehören, wenn es nicht irgendwo eine Quelle der Hoffnung, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Liebe gäbe. Diese Quelle ist es, die ich ‚Gott‘ nenne.“ Dieses „etwas von Gott“ in jedem Menschen bedeutet dann freilich auch: Wenn Gott mich verwandeln kann, muss ich auch davon ausgehen können, Gott könne ein solches Wunder in jedem Menschen bewirken. Die Feindesliebe zu unseren politischen und theologischen Gegnern bedeutet dann, Militärs und ihre Geistlichen in der Perspektive der Herrschaft Gottes wahrzunehmen, nicht nur zu sehen, was sie gerade sind, sondern auch, was
sie werden können, wenn Gottes Macht sie verwandelt. Von dieser Veränderung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten lebt das Fürbittengebet. Wir bitten für alle Menschen und für die gesamte Schöpfung mit der Perspektive darauf, wie – ich formuliere jetzt sehr verkürzt – Gott alle Menschen gemeint hat, als er die gesamte Schöpfung als sehr gut empfand.
Das Fürbittgebet ist dann – wie das Klagen und Weinen – ein wesentliches Element, den unter Steinen und Schutt begrabenen Gott wieder auszugraben. Walter Wink beschreibt dies so: „Das Gebet ist ein Rütteln am Käfig Gottes, ein Weckruf und ein Freisetzen Gottes. Das Gebet bedeutet, diesem dürstenden Gott Wasser undiesem hungernden Gott Nahrung zu geben; es zerschneidet die
Fesseln an Gottes Händen und Füßen, es wäscht den verkrusteten Schweiß aus Gottes Augen und schließlich sieht es zu, wie Gott sich mit Leben und Kraft und Energie füllt, und es folgt Gott nach, wo auch immer Gott hingeht.
“ Im Rahmen eines integrierten Weltbildes, von dem Wink ausgeht, und das besagt, dass „wir mit allen anderen Wesen des Universums verbunden sind, … kennen wir die
Grenzen des Möglichen nicht.
“ So „leben wir in der Erwartung von Wundern. … Und die Fürbitte ist eine völlig rationale Antwort auf eine solche Welt.“ In solchen Fürbitten beten wir nicht um die Vernichtung unserer Gegner, es geht nicht um Exklusion. Vielmehr geht es wie anfangs erwähnt um Verwandlung; es geht nicht lediglich darum, von den herrschenden Mächten frei zu werden, sondern diese selbst zu befreien – dazu noch einmal Walter Wink: „Wir sind bevollmächtigt, um Wunder zu beten, weil nichts anderes ausreicht. Wir beten zu Gott …, weil wir aus unserer Überlieferung und aus Erfahrung gelernt haben, dass Gott uns in der Tat genügt, was auch immer die herrschenden Mächte tun mögen.
Dies war auch ein entscheidender Gedanke Ernst Langes, wenn er formulierte: „Es ist eine Frage auf Leben und Tod für Gott und die Welt. Wenn wir uns das Wunder nicht mehr denken können, kann Gott es auch nicht tun.“
Was hält uns ab, in solchem Wunderglauben fürbittend zu beten, wenn wir ansonsten ganz selbstverständlich beten: „dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“. Im „Vater unser“ geht es wie in jedem Fürbittengebet um den Himmel auf Erden, darum, was Ernst Lange einmal so formulierte: Das Paradies könnte heute sein …

„Gott will, dass allen Menschen geholfen werde“ (1. Tim 2, 4)
Das ist die gesamtbiblische Hoffnung und Aufgabenbeschreibung für die Klagenden und Weinenden und Fürbittenden, für Jüdinnen und Juden sowie Christinnen und Christen. Ihr liegt die von Paulus aufgerufene abrahamitische Hoffnung zugrunde: „Abraham vertraute im Angesicht Gottes darauf, dass Gott die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ins Dasein ruft. Gegen alle Hoffnung hoffend vertraute er darauf, dass er zum Vater vieler Völker werde, wie es ihm zugesagt wurde.
Aus dieser Hoffnung lebten und argumentierten u. a. Helmut Gollwitzer, Dorothee Sölle und Ernst Lange. „Wer resigniert“, so Gollwitzer, „zeigt seinen Unglauben.“ ‚Resignation‘, so Dorothee Sölle, ‚ist der Luxus der Reichen.‘ „Man resigniert nicht, man prosigniert“, so Ernst Lange, „man setzt die Zeichen der Hoffnung so weit vor, wie man es irgend verantworten kann.“ Dieser Ernst Lange formulierte 1972 in großer Übereinstimmung mit Gollwitzers Buch zur kapitalistischen Revolution und Sölles Erfahrungen: „Die klassische Revolution ist hier jetzt nicht zu machen, denn die Integrationskraft des Spätkapitalismus ist ebenso offenkundig wie seine Unfähigkeit, die Weltzerstörung aufzuhalten, die er fort und fort produziert und exportiert bis an die Grenzen der Erde.
Ich füge diesem analytischen Satz Ernst Langes ein Statement einer der Wirt-schaftsweisen aus einem Interview vom 18. Dezember 2024 hinzu: Veronika Grimm hält eine weitere Liberalisierung und Deregulierung der Märkte für nötig, denn und jetzt zitiere ich wörtlich: „Eine solide industrielle Basis ist auch die Grundlage für unsere Verteidigungsfähigkeit. Wir werden Strukturwandel in vielen Branchen erleben, die aktuell unter Druck geraten. Aber wir brauchen gleichzeitig eine Stärkung der Rüstungsindustrie, was teilweise dem Strukturwandel eine Richtung geben kann.“ Das ist jene „Sprache der Tatsachen“, die „dem Christen die Sprache des Gottesdienstes verschlägt“. Aber „der Glaube kann seine Ohnmacht nicht einfach hinnehmen, er kann sich nicht mit ihr einrichten. Er weiß, dass eben
dies Sünde ist: die Wirklichkeit – und in ihr Gott und den Menschen im Stich zu lassen, als hätten sie keine Verheißung, zu schweigen, wo geredet, sich abzu-wenden, wo geliebt, zu resignieren, wo doch ‚prosigniert‘, wo die Zeichen der Hoffnung vorgerückt werden müssten.“
Lasst uns heute alles dafür tun, dass die Sprache der Tatsachen uns nicht die Sprache verschlägt. Hilfreich dazu erscheint mir ein Ausschnitt aus einer Predigt Helmut Gollwitzers, wenn er 1980 eine Predigt zu eben jenem Vers aus dem Timotheusbrief – „Gott will, dass allen Menschen geholfen werde, und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ – überschreibt mit dem Titel „Rettung für
alle“. In dieser Predigt heißt es: „Anstelle aller Grenzziehungen,die man im Namen Gottes proklamierte, wird hier die Tür sperrangelweit aufgerissen: Allen soll geholfen werden! Friede auf Erden nicht nur den Menschen, die guten Willens sind …, sondern als ‚Freude, die allem Volk widerfahren wird‘, also auch denen, die jetzt noch bösen Willens sind. Auch denen soll geholfen werden. Merkt wohl, wie sich, wenn dies als Ziel und Programm formuliert wird, unsere Vorstellung von den Menschen des bösen Willens verändert: sie werden betrachtet wie Kranke, denen von ihrer Krankheit weggeholfen werden soll (ein Gedanke, den Gollwitzer von Martin Luther King übernommen hat [Gottfried Orth]). Nicht wie Menschen, die sich selbst böse machen und dafür gestraft werden müssen, sondern wie Menschen, die in schwerer Not sind. Ihre Bosheit wird als ihre Not angesehen, und darum wird proklamiert: auch ihnen, ja gerade ihnen soll geholfen werden. … Nicht nur euer Wille ist da, euer manchmal böser, manchmal guter, meist ziemlich gemischter Wille ist da und wird wirksam, und nicht nur der Wille der Mächtigen, derer in
Washington und Moskau, deren böser, guter und meist ziemlich gemischter Wille macht die Weltgeschichte, sondern noch mit einem anderen Willen ist zu rechnen, ein anderer Wille mischt sich ein und wird wirksam, und das ist nicht nur ein kurzer und zeitlicher Wille von vergänglichen Menschen; das ist der Wille, aus dem wir alle herkommen, durch den wir ins Dasein gekommen sind, und das ist der Wille, der am Ende sich durchsetzen wird, wenn der kurze, vergängliche Wille sterblicher Menschen nichts mehr zu sagen haben wird … Gott will, dass allen Menschen geholfen werde – damit ist uns gesagt, was wir zu tun und zu lassen haben, wobei wir mitmachen sollen und wobei wir nicht mitmachen sollen, worauf wir uns verlassen sollen und dürfen im Leben und im Sterben.

Glauben – ein Tun-Wort
Glauben ist ein Tun-Wort – das Kind in der Krippe braucht unsere Mitarbeit, der Gott Isaaks und Jakobs und dieses Kind in der Krippe brauchen unsere Hilfe. In der jüdisch-christlichen Tradition ist „glauben“ ein Tun-Wort. Ich bin „gläubig“ ist keine Beschreibung christlicher Existenz. Ich greife nochmals 1. Timotheus 2, 4 auf: Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1. Tim 2,4). Diese Wahrheit ist wie der Glaube eine Kategorie der Praxis: Wir werden diese Wahrheit unseres Glaubens erleben und erkennen, wenn wir sie in der Nachfolge Jesu tun und dazu beitragen, dass der Mensch dem Menschen – endlich – ein Helfer wird (Bertolt Brecht). Dies gilt für den ganzen bewohnten Erdkreis und auf ihm für sämtliche „Filialen“ der ökumenischen Christenheit. Überall „können wir nur durch ein verändertes Verhalten im Diesseits, nicht durch bloße Behauptungen über göttliche Wahrheiten … die Relevanz des Glaubensbekenntnisses bezeugen.“ Zu diesem veränderten Verhalten gehört, dass wir „in den Katastrophen anfangen müssen, das zu leben, was die Katastrophe(n) verhindert hätte: Verbundenheit, Mitgefühl, Ehrlichkeit, Demut und den Mut, an das Gute im Menschen zu glauben“ – im Gesicht des anderen, der Kind Gottes bleibt in allen selbst gemachten Verdunkelungen,
Gott oder das Leben wahr zu nehmen, darauf kommt es an. „Können wir das wagen?“ – das ist die Frage an uns und unseren Glauben: „Kannst du das Wagnis eingehen, kannst du eine Möglichkeit finden, in allem, was ich tue, mich durchscheinen zu sehen, wie Gott mich gemeint hat?“ In solchem Wagnis sagen wir Ja zu Gott und den Nächsten und bekennen praktisch unseren Glauben.


Sich zeigen
Die Klagenden und Weinenden, die Fürbittenden und die, die beseelt sind von dem Willen, dass allen Menschen geholfen werden soll, zeigen sich in der Öffentlichkeit und stellen Öffentlichkeit her für Frieden, Abrüstung und Gewaltfreiheit.
Unvergessen ist mir, wie wir in Rothenburg ob der Tauber während der 1980er Jahre Freitag für Freitag zwischen 18.00 und 18.30 Uhr manchmal mit fünf Menschen, manchmal mit 20 Menschen uns im Kreis auf dem Marktplatz zum „Schweigen für den Frieden“ trafen: eine stille Zeit, eine Mahnwache, ein Gedenken, ein gemeinsames Sich-Sammeln für das Thema des Friedens, der Abrüstung und der Gewaltfreiheit, ein Protest und ein Bekenntnis, ein stilles Beten.
Wir hatten ein Banner, das auf den Grund unseres Zusammenseins verwies – mehr nicht. Ich nehme an, unter uns sind einige, die sich an solche Praxis erinnern. Es bedeutete auch Stärkung für jede und jeden. Doch der entscheidende Punkt war der Marktplatz, der signalisierte: mit diesem Thema geht es um die Zukunft unserer Erde. Und deshalb überlassen wir die öffentlichen Räume nicht anderen!
Wo gibt es heute Manuale für solch kleine, kontinuierliche Zeichensetzungen oder auch mal für größere Aktionen wie flash mops oder andere öffentlichkeits- wirksame Aktionsformen? Und wenn es solche Manuale gibt, wo sind die Menschen, die sie umsetzen? Oder sind sie auch zugeschüttet …? Brauchen wir vielleicht auch hier eine „Aktion Silberlocke“ …? Die noch immer im konstantini- schen Kartell gefangenen Kirchen taugen dazu m. E. kaum. Was wären andere Formen des „Sich-Zeigens“? Mit welchen Theater-Leuten, die beim Thema „Spiritualität“ oder „Gewaltfreiheit“ keine Angst bekommen, könnten wir solche Formen des Sich-Zeigens diskutieren und entwickeln? Wo sind die Träumer, die
Spieler, die Experimentatoren, mit denen wir neue Formen des Sich-Zeigens erproben können? Hier bleibt es auch in meinem Beitrag bei Fragen.
Ich komme zu zwei Schlussüberlegungen:


Erste Schlussüberlegung
Ich habe in meinem Vortrag nach Formen spirituellen Handelns gefragt, nach dem, was glaubende Menschen zu Frieden und Gewaltfreiheit anderes beitragen können als andere. Und – sie haben es sicher gemerkt: Autorinnen und Autoren meiner Zitate waren Christinnen und Christen aus der weltweiten Ökumenischen Bewegung oder solche aus unserem Land, die sich haben begeistern lassen von
dem, was der reiche Schatz ökumenischer Lernmöglichkeiten uns zu bieten hat.
Davon ist heute in unseren Kirchen nahezu nichts mehr zu spüren. Ökumene gehört nicht zum Kerngeschäft der Kirchen, wie deren Leitende meinen, und wenn es an Geld mangelt, muss hier „leider“ als erstes gestrichen werden. Das konstantinische Kartell von Staat und Kirchen besteht weiter, nationalkirchliche Engstirnigkeit, an der bereits Ernst Lange verzweifelte, ist eher angewachsen und
zugleich lässt sich ein andauernder „Prozess der De-Ökumenisierung“ und des ‚Verharrens der Evangelischen Kirche in Deutschland in kolonialistischen und rassistischen Strukturen‘ beobachten.
Dagegen ist Ernst Lange bereits vor mehr als fünf Jahrzehnten Sturm gelaufen, wenn er „die ökumenische Bewegung als den massivsten innerchristlichen Protest gegen ein Christentum bezeichnete, das sich im Kartell mit den Herrschenden in sein genaues Gegenteil verkehrt habe.“ Das hat die deutschen Kirchen schon damals nicht aufgeschreckt und heute erscheint es sang- und klanglos vergessen.
Und dabei könnten wir doch seit neutestamentlicher Zeit wissen, was eben dieser Ernst Lange so formuliert hat: „Die deutsche Christenheit ist etwas, sofern sie die deutsche Provinz der Weltchristenheit ist, und sonst gar nichts. Und das ist ja noch nicht einmal eine sonderlich neue Weisheit. Sie ist in ihrer geistlichen Substanz etwa zwei Jahrtausende alt.“


Zweite Schlussüberlegung
Resignation ist der Luxus der Reichen. Ich gehöre diesen an und wehre mich so gut ich kann, gegen jede Resignation – resignierend hätte ich aufgehört, zu glauben – und deshalb schließe ich mit einem Zitat von Walter Wink, einem Gedicht aus der Bukowina von Rose Ausländer und mit einer kleinen buddhistischen Erzählung. Zunächst Walter Wink:
In einer pluralistischen Welt, in der wir das Privileg haben, von allen religiösen und philosophischen Traditionen zu lernen, haben Christen den Völkern noch immer eine Geschichte zu erzählen. Wer weiß, vielleicht tut dieses Erzählen niemandem so gut wie uns selbst. Und während wir diese Geschichte erzählen, nehmen wir wahr, dass wir selbst – und vielleicht sogar die Welt – schon ein klein wenig verwandelt sind.
Zum neuen Jahr – und das ist das zweite Zitat – kommt ein Gedicht aus der Bukowina – von Rose Ausländer – zu uns:
„Im neuen Jahr // grüße ich // meine nahen und // die fremden Freunde
grüße die // geliebten Toten
grüße alle // Einsamen
grüße die Künstler // die mit // Worten Bildern Tönen //mich beglücken
grüße die // verschollenen Engel
grüße mich selber // mit dem Zuruf // Mut“

Und die buddhistische Erzählung erinnert nochmals an die résistance spirituell, die ich im Vortrag einige Male erwähnt habe: Wenn André Trocmé nach seiner und Magdas Rolle im französischen Widerstand, der résistance spirituell gegen Nazi-Deutschland und in der weltweiten pazifistischen und gewaltfreien Bewegung gefragt worden war und wenn die Leute sich gewundert hatten,
welche Energie die beiden antrieb, dann hat er immer eine kleine buddhistische Geschichte erzählt: die Geschichte vom Mönch und dem Vogel; André Trocmé erzählte sie so:
„Ein buddhistischer Mönch saß am Ufer des gelben Flusses und beobachtete erstaunt eine Taube. In regelmäßigen Abständen tauchte der Vogel sein Gefieder ins Wasser und erhob sich dann mit wassersprühenden Federn in die Luft. Bis er wiederkehrte. ‚Warum machst du das?‘, fragte der Mönch die Taube. ‚Siehst du nicht den Rauch am Horizont?‘, antwortete sie. ‚Dort ist ein Waldbrand, ich versuche ihn zu löschen.‘ Der Mönch lachte laut auf. ‚Und du glaubst, dass du kleiner Vogel irgendetwas bewirkst?‘ ‚Das weiß ich nicht‘, sagte die Taube. ‚Aber ich weiß, dass ich es tun muss.‘“

Solche Tauben brauchen wir heute – dringend.


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