Von der wahren Liebe.

Hans Denck, Worms 1527

neu verdeutscht von Thomas Nauerth.

Die folgende Übertragung in heutiges Deutsch orientiert sich an Hans Denck. Schriften. (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte Bd. XXIV). 1.Teil. Bibliographie (hg. v. G. Baring). Gütersloh 1955; 2.Teil. Religiöse Schriften (hg. v. W. Fellmann). Gütersloh 1956; 3.Teil. Exegetische Schriften, Gedichte und Briefe. Gütersloh 1960. In eckigen Klammern [ ] finden sich ergänzende Worte zur Verdeutlichung; an einigen Stellen wurde der Originalwortlaut eingefügt: [>xxx<] und [76.5] bezeichnet die Seitenzahl + Zeilenzahl in Bezug auf die kritische Ausgabe: 2.Teil. Religiöse Schriften (hg. v. W. Fellmann). Gütersloh 1956.
Eine ältere Übertragung ist: Von der wahren Liebe. Hans Denk. / Auslegung des Vaterunser. Hans Langenmantel. Zwei Altevangelische Schriften aus dem Jahr 1527. 1888 Mennonitische Verlagshandlung Elkhart, Indiana (= https://books.google.de/books?id=JJk_AQAAMAAJ )

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[Die Kraft der Liebe]

[76.5] Liebe ist eine geistliche Kraft, durch die man mit einem anderen vereinigt wird, oder begehrt, vereinigt zu werden. Wo die Liebe vollkommen ist, verwehrt sich der Liebende nicht gegen den Geliebten, sondern vergisst sich selbst, als ob er nicht mehr existierte und jeglicher Schaden, den er um des Geliebten willen erleiden sollte, gilt für ihn nicht. Ja, der Liebende ist nicht zufrieden, mit [all] dem, was er anfängt, bis dass er die Liebe [76.10] gegen den Geliebten aufs allerhöchste in allen Gefahren bewiesen hätte. Wo es möglich wäre (soweit es möglich sein kann), dass es dem Geliebten zugute geschehen könnte, gäbe sich der Liebende für das Geliebte willig und fröhlich in den Tod. Ja, so verwegen empfindet der Liebende (um es so [drastisch] zu sagen), das er dem Geliebten zu Gefallen sterben wollte, auch wenn er wüsste, dass ihm sonst nichts Gutes daraus [76.15] entstehen kann. Und: je weniger das Geliebte die Liebe des Liebenden erkennt, umso stärker tut es dem Liebenden weh. Dennoch kann er die Liebe nicht lassen, sondern muss sie auf das höchste beweisen, selbst dann, wenn es niemals jemand erkennen wird.

Desgleichen, wenn die Liebe lauter ist, und keine Person ansieht, dann streckt sie sich aus und begehrt (sofern es ohne Spaltung und Unstetigkeit geschehen kann), [76.20] mit jedermann sich zu vereinigen, denn sie kann von allen Geliebten niemals genug gesättigt werden.

Wenn ihr jedoch alles Geliebte ganz und gar entginge, so dass sie sich nicht mit ihm erfreuen könnte, so hat sie doch an sich selbst so unermesslich [>grundlos<] viel Reichtum, daran sie ewiglich genug gehabt hat, und noch genug hat, und bis in Ewigkeit genug haben wird. Darum kann sie auf alle Dinge, [76.25] wie lieb sie ihr auch gewesen sein mögen, außer der Liebe selbst, verzichten.

Ja, wenn es möglich wäre, würde sie auch um der Liebe willen auf die Liebe verzichten und würde gern selbst zu nichts werden und nichts sein, auf dass ihre Geliebten das würden, was sie ist. Insofern hasst sich die Liebe selbst, denn sie begehrt bloß anderen zu Nutz und zum Guten zu sein, nicht sich selbst. Und wenn sie sich nicht zurücksetzen und [auf sich selbst] verzichten könnte, um [77.1] des Geliebten willen, so wäre sie nicht gut und hielte sich selbst nicht für gut, weil sie eigennützig wäre. Wenn sie sich aber um der Geliebten willen vollkommen preisgibt, dann weiß und erkennt sie, dass es gut ist. Darum kann und mag und soll sie sich selbst nicht hassen, sondern muss sich selbst lieb haben, [77.5] doch nicht als sich selbst, sondern als ein Gut.

Ursprüngliche Buchausgabe von 2007, aktuell vergriffen, ganzer Text als pdf hier

[Die vollkommene Liebe]

Diese Liebe spürt man in etlichen Menschen, je ein Fünklein, im einen mehr im anderen weniger, wiewohl es leider fast in allen Menschen zu unseren Zeiten erloschen ist. Doch, weil die Liebe geistlich ist und die Menschen alle fleischlich sind, ist es gewiss, dass dies Fünklein, wie klein es auch immer im Menschen ist, nicht [77.10] von den Menschen, sondern von der vollkommenen Liebe herkommt. Diese Liebe ist Gott, der sich selbst nicht machen kann, obwohl er alle Dinge gemacht hat, der sich selbst nicht brechen kann, obwohl er alle Dinge brechen wird. Darum heißt er [>ist er<]: von Ewigkeit zu Ewigkeit unbeweglich.
Er, der sich selbst, weil er gut ist, so lieb haben muss, dass er von ihm selbst empfängt, und sich selbst für und für [77.15] gebärt.
Er, der sein Selbst so wenig achtet um derer wegen, die seiner bedürfen, dass er um ihretwillen (sofern es möglich wäre) gerne nichts sein wollte.

Fleisch und Blut können diese Liebe nicht begreifen, außer wenn Gott sie in etlichen [Menschen] besonders beweist. Diese Menschen nennt man göttliche Menschen und Gotteskinder, weil sie Gott nachschlagen als ihrem geistlichen [77.20] Vater. Je stärker [>höher<] sie nun bewiesen wird, desto stärker [>höher<] kann sie von den Menschen erkannt werden; je mehr sie aber erkannt wird, desto mehr wird sie geliebt. Je mehr die Liebe geliebt wird, um soviel näher ist die Seligkeit. Darum hat es der ewigen Liebe gefallen, dass der Mensch, in dem die Liebe am höchsten bewiesen wird, ein Seligmacher seines Volkes genannt wird. Nicht [soll damit gesagt werden,] dass es der Menschheit möglich [77.25] wäre, irgendjemanden selig zu machen, sondern, dass Gott so völlig in Liebe mit diesem Menschen vereinigt ist, dass alles Handeln Gottes dieses Menschen Handeln ist, und alles Leiden dieses Menschen als Gottes Leiden geachtet wird.

Dieser Mensch ist Jesus von Nazareth, der von dem wahrhaftigen Gott in der Schrift verheißen und zu seiner Zeit in Erfüllung gesetzt [>geleistet<] worden ist, wie sich’s dann [77.30] durch die Kraft des heiligen Geistes[1] öffentlich in Israel bewiesen hat mit allem Tun und Lassen [in seinem Leben], das der Liebe gebührt und eigen ist.

Und daran erkennen wir in dieser lieblosen Zeit, dass es wahrlich schon erfüllt [>geleistet<] wurde: dass wir durch Gottes Geist die Liebe in mancher Weise aufs höchste erkennen und gewiss sind, dass sich die Liebe Gottes gegen den Menschen und [die Liebe] des Menschen gegen Gott nicht [77.35] stärker [>höher<] erweisen kann, als es in diesem Jesus geschehen ist. So sehr hat Gott sich nämlich über die Welt erbarmt, dass er auf all seine Rechtsansprüche [>Gerechtigkeit<], die er wider unsere Sünde hat, gern verzichten [>verzeihen<] will, sofern wir nicht verachten, was in Jesus – nach der Menschheit aber nicht von der Menschheit, sondern von Gott gelehrt – hinreichend bewiesen worden ist:

Nämlich, dass der Mensch bloß in der höchsten [78.1] Liebe gegen Gott stehen soll und soviel ihm möglich ist,
auch seinen Nächsten dazu helfen und förderlich sein soll,
damit er Gott erkennt und lieb hat.

[ ….]

[Über die Gewalt und das Herrschen]

[84.30] Mit Gewalt verfahren und herrschen ist gar keinem Christen erlaubt, der sich seines Herrn rühmen will. Denn das Reich unseres Königs steht allein in der Lehre und in der Kraft des Geistes.

Wer Christus wahrlich als seinen Herrn erkennt, der soll auch nichts [anderes] tun, als was er ihm befiehlt. Nun befiehlt er aber allen seinen Schülern, nicht weiter mit den Übeltätern zu handeln, als dass [84.35] man sie lehre und ermahne zu Besserung. Wenn sie nicht hören, soll man sie Heiden sein lassen und meiden[1], denn die, die draußen sind (das sind die Ungläubigen) gehen die Gemeinde Christi nichts an, außer wo sie ihnen mit der Lehre [85.1] dienen kann. Nicht, dass die Gewalt in sich selbst unrecht sei – mit Blick auf die böse Welt – denn sie dient Gott zu seiner Rache. Aber die Liebe lehrt alle ihre Kinder noch ein Besseres, nämlich, dass sie Gottes Gnade dienen sollen. Denn es ist die Art der Liebe, dass sie nicht will oder begehrt jemanden schädlich zu [85.5] sein, sondern jedermann zur Besserung dienen will, soviel es ihr möglich ist.

Wer aber ein Hausvater ist, der handele mit Weib und Kind, Knecht und Magd, wie er will, dass Gott mit ihm handelt, das [ver]wehrt ihm die Liebe nicht.

Und sofern es einer Obrigkeit möglich wäre, auch so zu handeln, so könnte sie wohl auch christlich in ihrem Stand sein. Dieweil es aber seit je die Welt nicht leiden kann, so soll [85.10] und kann ein Freund Gottes nicht in die Obrigkeit, sondern [muss] draußen wachsen, will er Christum für einen Herrn oder Meister halten. Wer den Herrn liebt, der liebt ihn, er sei in welchem [gesellschaftlichen] Stand auch immer, doch soll er nicht vergessen, was einem wahren Liebhaber zusteht, nämlich, dass er um des Herrn willen auf alle Gewalt verzichte und sich nicht weigere, jedermann untertan zu sein gleichwie dem Herrn.

[85.15] Sagt aber jemand:

Johannes, der Täufer, hat doch den Kriegsknechten ihren Stand nicht abgesprochen und verworfen, als sie ihn fragten, was sie tun sollten.[2]

Antwort:

Das Gesetz und die Propheten hat bis zu Johannes gedauert.[3] Johannes aber ist nicht gekommen, dass er das Gesetz aufheben sollte, denn dieses zu tun gebührt allein dem Licht selbst, sofern und soviel es geschehen sollte. [85.20] Johannes aber war nicht das Licht, sondern nur ein Zeuge des Lichtes.[4] Wer die Sünde hinweg nimmt, der kann auch das Gesetz hinweg nehmen. [Dies aber kann nur] das Lamm Gottes, Jesus Christus, auf das Johannes gewiesen hat.[5] Er hat den Zorn Gottes über alle, die nicht in des Gesetzes Worten bleiben, verkündigt[6], auf dass sie sich bekehrten. Christus aber hat solchen zuerst Gnade verkündigt und umsonst feilgeboten[7], wodurch sie ohne Tadel nach dem Wohlgefallen Gottes leben können.


[1] Mt 18,15.

[2] Lk 3,14.

[3] Mt 11,13.

[4] Joh 1,8.

[5] Joh 1,29.36.

[6] Mt 3,7; Lk 3,7.

[7] Lk 4,16ff.


[1] Lk 4,14.


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