Unsere gemeinsamen Wurzeln

/ Ein Gespräch mit Joseph Abileah /

/ von James H. Forest (IFOR Report, Dez. 1980 „Peace Makers In Israel“)
Deutsch von Heidi und Georg Wolfgang Schimpf /

Joseph, du bist einer der Dauer-Läufer unter den Friedenskämpfern in Israel. Es fällt mir auf, daß jedermann, mit dem ich hier in Israel spreche, dich kennt, von deiner Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen weiß, von deiner Gewaltfreiheit und von deiner Hoffnung auf eine arabisch-jüdische Kon-föderation. Wie bist du zu dieser ungewöhnlichen Einstellung gekommen?

Meine Einstellung und mein Engagement für die Gewaltfreiheit entsprang einer Erfahrung, die ich vor vielen Jahren gemacht habe. Es war im Jahr 1936, als es hier in Palästina Unruhen gab und die Lage für jedermann sehr gefährlich war. Die Juden waren gefährdet, die Araber waren gefährdet. Ich befand mich auf einem Ausflug auf arabischem Gebiet. Eines Morgens sah ich mich plötzlich auf freiem Feld einer Gruppe Menschen gegenüber; anscheinend waren es Muselmänner. Wir hatten ein kurzes Gespräch. Als sie merkten, daß ich jüdischer Herkunft war, sagten sie, sie müßten mich töten, weil ihnen befohlen sei, jeden Juden zu töten, der ihnen begegnete. Ich sagte, „Wenn das eure Pflicht ist, dann müßt ihr es tun. Ich bin in eurer Hand.“ Ich verstehe Arabisch ganz gut, so verstand ich auch, was sie unter sich sprachen. Einer machte den Vorschlag, mich in einen Brunnen zu werfen. Als ich das hörte, fragte ich ganz ruhig, wo dieser Brunnen sei und ging dann in diese Richtung. Als ich dort war, umringten mich die Leute, die mir nachgefolgt waren und ich stand da, vor dem offenen Brunnen. Aber da war nicht einer, der das Herz hatte, mich hineinzustoßen. Es war eine schwierige Lage. Sie wollten mich nicht freilassen, weil sie sonst gegen ihre Pflicht verstoßen hätten. Aber keiner wollte der erste sein, etwas zu tun, von dem ihm sein Gewissen sagte, daß es falsch sei. Endlich fiel ihnen ein Ausweg ein. Sie machten mich – pro forma – zu einem Moslem, und dann ließen sie mich frei.

Später dachte ich über die ganze Situation nach, und über die Mentalität dieser Leute. In dem Augenblick, als sie handeln wollten, meldete sich ein Instinkt – es war kein autoritativer Befehl, der sie leitete. Ich erkannte etwas, was ich später in anderen Philosophien las, „das von Gott“ in unserem Herzen, einen göttlichen Funken, den wir haben, der uns in einem Augenblick erleuchtet und unser Handeln bestimmt.

Als ich auf diese Weise gerettet wurde, erkannte ich, wie nutzlos und sinnlos Waffen für die Verteidigung sind. Wenn ich in dieser Lage einen Revolver gehabt hätte, würde ich vielleicht einen der Leute getötet haben – aber es waren ihrer 30 – und dann wäre ich sicher getötet worden. Hätte ich auch nur den geringsten Widerstand gezeigt, so hätten sie mich getötet. Diese Art der Reaktion, die damals ganz instinktiv war, hat mir seither schon mindestens zehnmal das Leben gerettet

(….)

Wann hast du damit angefangen, dich für eine Konföderation als Lösung für die Nahostprobleme einzusetzen?

Abileah: Im Sommer 1947, als Zeuge beim United Nations Special Committee on Palestine (UNO-Sonderkommission für Palästina) in Jerusalem, widersetzte ich mich ganz entschieden dem Teilungsplan. Ich gehörte zur Ihud-Gruppe, der eine binationale Lösung für den westlichen Teil des Jordan, das Gebiet, das heute Palästina genannt wird, vorschwebte. Ich war der Ansicht, wir müßten eine gemeinsame Lösung für beide Ufer des Jordan finden. (…)

Es scheint mir, diese grundlegende Idee gilt immer noch.

Ja, gewiß. Damals sprach ich noch nicht von einer Konföderation, aber Ralph Bunche, der Sekretär der UNO-Kommission,schrieb in seinem Bericht an die Generalversammlung der Vereinten Nationen über eine Stellungnahme der Minder-heit, worin die Idee einer Konföderation enthalten war. Es war nicht meine ursprüngliche Idee, aber er hat Argumente von mir und anderen übernommen. Im Jahr 1970, bei den Vereinten Nationen, traf ich Bunche wieder. Er sagte zu mir: «Ich erinnere mich sehr wohl an Ihren Antrag. Wir hätten nicht die Teilung beschließen sollen bei den Vereinten Nationen.» Aber es war ein Mehrheits¬be-schluß. Es ist leider geschehen. Es ist eine Tragödie. (…)

Nach dem Krieg von 1967 und der Besetzung des Westufers konnte ich dort wieder arabische Freunde treffen, und wir fingen an, über die zukünftigen Möglichkeiten zu sprechen. Damals reifte diese Idee einer Konföderation in mir.

Hat die Oeffentlichkeit mitunter kritisch auf deine Einstellung reagiert? Gab es Zeiten, wo dich dein Engagement in Lebensgefahr brachte?

Ich hatte besonders große Schwierigkeiten, als ich 1970 zu den Vereinten Nationen ging, um der Menschenrechtskommission einen Bericht über die Administration der West-Bank zu überreichen. Damals erklärte die Regierung von Israel offiziell, sie würde nicht mit der Kommission zusammenarbeiten. Während meiner Abwesenheit stand es in den Zeitungen. Meine Frau bekam bösartige Telephonanrufe und hatte Angst auszugehen. Ich sagte bei den Vereinten Nationen in New York: Wenn es sich um Menschenrechtsverletzungen handelt, ist man zuerst der Menschheit und dann erst seiner Regierung verpflichtet. Ich komme, um dafür zu zeugen. Das wurde in den Zeitungen abgedruckt, und die Leute respektierten es. Der Berichterstatter hat seine Sache gut gemacht. Er sagte, es sei mir gelungen, die Angriffe anderer Leute auf den Staat Israel zu mildern, weil ich das Vertrauen der Kommission genieße. Nachdem dieser Artikel erschienen war, wagte niemand mehr etwas gegen uns zu sagen. Diejenigen, die meine Familie bedroht hatten, verschwanden wie Mäuse in ihren Löchern. (…)
Es kommt drauf an, wie man die Sache angeht. Ungerechtigkeiten sollte man nicht ohne Protest lassen. Aber, wie ich der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen gesagt habe: Solange wir im Nahen Osten Nationalstaaten haben, wird Ihrer ehrbaren Kommission die Arbeit nicht ausgehen. Denn in einem National-staat,wo man eine Mehrheit und eine Minderheit hat, muß man die Minderheit — besonders bei Verhältnissen, wie sie in unserem Lande herrschen — immer unter Kontrolle halten. (…) Und so macht man Gesetze, um diese Minderheiten in Schach zu halten. So etwas nenne ich Diskriminierung. Wenn Menschen das Gefühl haben, daß sie Staatsbürger zweiter Ordnung sind, werden sie verbittert und noch mehr gegen den Staat eingenommen, in dem sie leben. Und dann muß man, um sie unter Kontrolle zu halten, noch strengere Gesetze erlassen. Es ist ein Teufelskreis. Deshalb habe ich der Menschenrechtskommission gesagt: Es fehlt den Israelis nicht am guten Willen. Wir sind gezwungen, so zu handeln, weil wir ein Nationalstaat geworden sind, der uns dazu zwingt. Wir sind nicht schlimmer als andere Länder (…)
Das Hauptziel meiner Bemühungen ist die Schaffung eines politischen Modells, das allen Bürgern gerecht wird. Und das ist nur in einer Konföderation möglich. Stell dir vor: Vom Mittelmeer bis zum Rand der Wüste, wo die Römerstraße ist, sind es weniger als 150 Kilometer. Auf solch einem kleinen Gebiet mit so wenig Naturschätzen und Produktionsmöglichkeiten drei souveräne Nationalstaaten zu schaffen, läuft jeder Logik zuwider. Das kann nicht gut gehen. Wenn wir uns jedoch zusammentun, so können wir eine wirtschaftliche Einheit bilden und uns aus beiden Machtblöcken, West und Ost, heraushalten. Das können wir zur Zeit nicht, denn wir sind abhängig, wirtschaftlich und militärisch. Ich besprach mich einmal in Washington mit den Rechtsberatern verschiedener Senatoren. Einer von ihnen fragte mich: «Warum wollen Sie eine Konföderation? Gründen Sie einfach einen Palästinenserstaat, dann können die drei Staaten in diesem Gebiet Handels und Wirtschaftsverträge miteinander abschließen.» Ich hatte nicht gleich eine Antwort bereit, aber ich hätte sagen sollen: Warum haben Sie die Vereinigten Staaten? Warum brauchen Sie eine Regierung in Washington? Sie könnten 50 verschiedene Staaten haben, und diese könnten Verträge untereinander abschließen.

Könntest du genauer erklären, wie eine solche Konföderation aussieht?

Ich möchte mich zuerst auf ein Modell beziehen, das Daniel Elazar, der Leiter des Instituts für föderative Studien in Jerusalem, vorgeschlagen hat. Es handelt sich um eine Einteilung in Kantone nach Schweizer Muster. Die Mitglied-staaten würden jüdisch oder arabisch sein, je nach der Zusammensetzung der Be-völkerung. Wo mehr Juden sind, entsteht ein jüdischer Mitgliedstaat, wo mehr Araber sind, ein arabischer. Einige sollten gemischt sein. (…)

Joseph, zum Schluß möchte ich dich noch etwas fragen: Wie hältst du es mit der Religion? Es scheint mir, Nationalismus und religiöser Glaube geben im allgemeinen eine schlechte Verbindung ab, und je mehr uns die Gegenwart Gottes bewußt wird, desto durchsichtiger werden die Grenzen. Pazifisten haben oft ein religiöses Motiv, ein Gefühl für die Gegenwart Gottes, überall, besonders aber in den menschlichen Wesen. Es wird sehr schwer sein, jemanden zu töten, wenn man sich an den Gedanken gewöhnt hat, daß Gott in ihm ist, selbst in einem, den wir Feind nennen. Das ist die Wurzel meiner eigenen christlichen Tradition.

Und es ist auch die Wurzel des Judentums. Wir finden viele pazifistische Grundregeln in unseren Quellen, und die Bergpredigt ist, wie ich glaube, die Summe von ihnen allen.

Ein befreundeter Rabbiner aus dem amerikanischen Versöhnungsbund erinnerte mich daran, daß Jesus ein guter Jude war, daß seine ethischen Lehren nicht neu sind.

Durchaus nicht. Sie sind die Summe von Ideen, die zu seiner Zeit schon lebendig waren. Darum ist es für mich nicht schwierig, die Bergpredigt anzunehmen als Richtlinie für das Judentum, das ich praktiziere. Wenn andere mich nach meiner Religion fragen, antworte ich: Ich versuche, die jüdische Ethik so zu leben wie die ersten christlichen Gemeinden. (…) Ich versuche das zu leben, was ich für vollkommenes Judentum halte. Es reicht bis zu unseren Wurzeln. Und ich hoffe, daß die Christen auch zu ihren Wurzeln zurückkehren werden. Dort können wir uns treffen.

Das gesamte Gespräch ist auch in „Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus 75 (1981) erschienen, online zugänglich unter https://doi.org/10.5169/seals-142918


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