JUDENTUM UND GEWALT

HANS KOHN

Der entscheidende Wendepunkt der altjüdischen politischen Geschichte ist der Augenblick, wo die Vertreter der Stämme Israels zu dem Propheten Samuel kamen und ihn ersuchten, Israel einen König zu geben, „wie ihn alle anderen Völker haben“. Samuel wiederstrebte ihrer Bitte, denn er sieht in ihr einen Abfall von Gott und den Wegen wahren Judentums. Er zeigt ihnen, was es bedeutet, einen König zu haben, einen Staat zu bilden, wie alle anderen Völker. Es bedeutet Macht und Glanz, aber auf Kosten von Krieg, Unterdrückung, Un­freiheit, Erniedrigung. Dennoch beharrt das Volk bei seinem Wunsche und Samuel erfüllt ihn.

Der jüdische Staat hatte keinen langen Bestand. Er kämpfte nicht nur mit äusseren Feinden, mit Staaten gleich ihm, nur häufig viel mächtiger, sondern er hatte sich auch im Innern einer Prüfung zu unterziehen, der er so wenig standhalten konnte wie andere Staaten. Staat und Nation sind gewohnt, sich als letzten Massstab zu sehen, ihr Heil als das Heil schlechthin, dem die ewigen Wahrheiten unter­zuordnen sind Und weil Staat und Nation mit diesem Anspruch von Göttlichkeit umgeben sind, glauben sie sich auch berech­tigt, Gewalt zu üben und alles ihrer Gewalt zu unterwerfen.  Die für die Entwicklung des Judentums entscheidende Strö­mung in seinem Volksleben hat diese Grundüberzeugung ver­worfen. Staat und Nation und religiöse Gruppe sind ihr keine absoluten Werte, sondern sie sind unterworfen der allgemeinen Sittlichkeit und werden an ihr gemessen Die Zeit der Propheten ist angefüllt mit einem in der Geschichte der Politik einzig­artigen Kampfe. Auf der einen Seite stehen die Könige Israels und Judas und ihre Ratgeber, die nach einem mächtigen und gedeihlichen Staate streben, wie alle anderen Staaten der Erde. Das Volk lebt zufrieden in Wohlstand und Glück, erfährt Schicksalsschläge wie alle anderen Völker, Künste und Wirt­schaft entfalten sich. In diese Ordnung ertönt die Stimme der Propheten und verwirft diesen Staat, weil er ein Staat ist wie alle anderen. In unerhörten Paradoxien lehren sie das Gegenteil dessen, was das Volk glaubt. Sie stellen menschlichen Trieb dem Willen Gottes entgegen. Ihnen gilt der Mensch und nicht die soziale Ordnung, in die er hineingestellt ist. Sie zer­stören den Staat, der immer etwas Relatives ist, Notbehelf im Ausgleich menschlicher Triebe, indem sie ihn am Absoluten messen. Sie stehen wider das Volk, seinen Staat, seine Könige und Mächtigen. Und das Volk beugt sich. Es nimmt das Schwere auf sich. Es tritt aus dem Bezirk der gewohnten Politik heraus, es wird anders denn alle anderen Völker. Es erkauft sein ewiges Leben, während die anderen rings um es untergehen, um einen Preis, der wie ein fürchterliches Joch es belasten wird. Es wird sich immer wieder dagegen empören. Aber sein Schicksal ist entschieden. Das Volk hat jene, denen es einst zugejubelt hat und die es nichts gelehrt haben, als was die Führer aller anderen Völker lehren, die klugen und edlen Berater des Thrones Lügenpropheten genannt. Und hat die bitteren Geistesschläge gegen seine Könige und Helden und gegen seine eigenen natürlichen Triebe nach Macht, Reich­tum und Gewalt in Ehrfurcht bewahrt.

Die politische Erkenntnis eines Hoseas oder Jesajas sah als den einzigen Weg die Abkehr von äusserem Glanze und äusseren Machterfolgen und die Konzentration auf die Schaf­fung eines gerechten Gemeinwesens im Inneren. Tut man dies, dann braucht man nicht zu verzagen, dann kann man ruhig vertrauen und braucht nicht in ständiger Angst zu leben. Ein im lnnern auf Gerechtigkeit aufgebautes, nicht nach aussen durch Zwang und Gewalt Güter und widerstrebende Menschen an sich ziehendes Gemeinwesen ist sicherer als ein auf Armeen sich stützender, innerlich aber gebrechlicher oder Neid und Angst der Nachbarn erweckender Koloss. „Wehe denen, die sich auf Rosse verlassen und auf Streitwagen hoffen, dass derselbigen viele sind, und auf Reiter, darum, dass sie sehr stark sind“, warnt Jesajas, „in Umkehr und Ruhe besteht euer Heil. In Stille und Vertrauen besteht eure Heldentat.“ Nicht anders verhielt sich Jeremias, als sein Volk sich wiederum zu einem Unabhängigkeitskampf erheben und die „Fesseln der Fremdherrschaft“ abschütteln wollte. Wegen seiner „landesverräterischen“ Handlungen und Reden wurde er eingekerkert, misshandelt, mit dem Tode bedroht. Die Generäle erhoben gegen ihn die Anklage, dass er Volk und Heer entmutige. „Denn dieser Mann ist nicht auf das Heil des Volkes bedacht, sondern auf sein Unheil.“ So sprachen die Generäle und verlangten des Jeremias Tod. Aber der Prophet wich nicht. Mag er auch erliegen, er weiss, dass die Wahrheit siegt. Mag sein, dass er die politische Autorität zerstört. Aber ihm ist der Staat nur als sittliches Instrument Gottes in seinen Wegen denkbar. „Nicht durch Macht, nicht durch Gewalt, sondern allein durch meinen Geist.“

Das Judentum hat die Lehre der Propheten aufgenommen. In Jesu Predigt, wie im frühen urchristlichen Kreise, der ein jüdischer Kreis war, wie in der vorbildlichen Gemeinschaft der Essäer lebte sie fort. Die Essäer lebten von strenger Arbeit, Ackerbau und Handwerk, mit Ausnahme der Verfertigung von Waffen. Sie erwählten sich Führer, denen sie willig gehorchten, aber sie verwarfen die Herrschaft des Menschen über den Menschen und jede Form von Gewalt als ungerecht und gottlos.

Nicht nur diese Lehre, sondern auch sein Schicksal hat das jüdische Volk zur Abwehr von der Gewalt bestimmt. Freilich war die Lehre, die es auf sich genommen hatte, mit­bestimmend für sein Schicksal. Als der äussere Rahmen nationalen Lebens zerbrach, zerbrach nicht, wie es bei allen anderen Völkern geschehen war, die national-geistige Existenz; ohne Land, ohne Zusammenhalt durch äussere Macht und Gewalt, ohne weltliche führende Autorität blieb das Judentum durch all die Jahrhunderte. Einsam und anders lebte es unter den Völkern, ihnen ein Abscheu oder eine Verwunderung. Als die heute die grossen Kriege führenden Völker noch nicht bestanden, hatte sich das Judentum bereits von Gewalt und »äusserer Macht abgewandt. Über alle Länder verstreut, hat es an allen Kulturen teilgenommen, ist durch sie bereichert worden und hat sie bereichert, es ist ein Welt- und Menschheitsvolk geworden und dennoch stets unterschiedlich und abgesondert als Volk geblieben Es hat die Nichtigkeit und Verwerflichkeit von Gewalt und äusserem Glanz erkannt.

Es war nie pessimistisch. Ein ungeheurer Lebenswille hat es durchflutet, hat immer neue Formen aus dem Schosse des Judentums hervorgehen lassen. Aber das Leben hatte für den Juden nur einen Sinn, wenn es den Gesetzen der Sittlichkeit unterworfen war. Das Leben war für den Juden schwer, aber er nahm es willig auf sich, da es einen Sinn hatte: die Ver­geistigung und Vergöttlichung des Lebens, die Erhebung der Würde des Menschen, die Abkehr von aller Gewalt. Der Jude erfuhr in vielen Jahrhunderten an seinem Leibe die Wirkung der Gewalt, sie ist ihm dadurch nicht ehrfürchtiger oder gerechter geworden. Der Jude hielt fest an den Traditionen, die ihm überkommen waren, er war in der gleichen Zeit ein Revolutionär, denn er durchschaute die Hohlheit der Autorität, die sich auf Zwang und Gewalt stützt. Er hatte keine Könige und Fürsten seines Stammes, aber nirgendwo wurde den Führern so willig Gefolgschaft geleistet wie bei den Juden. Es waren Führer, die man freiwillig anerkannte, da sie durch die Reinheit ihres Lebens und die Erhabenheit ihrer Weisheit hervorragten. In keinem Volke wurde der Weisheit und vorbildlichem Leben so hohe Achtung gezollt wie bei den Juden. Dem gegenüber galten Abstammung und Reichtum nichts. Aus den ärmsten Schichten konnte ein jeder zur Führerschaft aufsteigen. Aber wie es im Judentum in ausgebildetster Weise Führerschaft gab, so gab es keine Herrschaft.

Das Judentum hat den Kampf gekannt, das zähe Ringen um die Schwere der Aufgabe, den Mut, um dieser. Aufgabe willen alles zu ertragen, und das Martyrium. Aber es hat den Krieg gehasst, den es seit zwei Jahrtausenden nicht mehr geführt hat, den organisierten Mord. wie jede Gewalttat über­haupt. Jeder Jude trägt in seinem Blute eine instinktive und bis zur Heftigkeit gesteigerte Abneigung gegen rohe Gewalt, Mord und Krieg. Der Heroismus des Krieges, der sportliche Geist des Wettbewerbes sind ihm unverständlich. In talmudi­scher Zeit wird diese Erkenntnis von der Einheit und Gleichheit des Menschengeschlechtes, von der Wurde und Grösse jedes einzelnen Menschen immer wieder betont. „Wo immer du die Spur eines Menschen wahrnimmst, dort steht Gott vor dir.“ „Dies ist das Buch der Menschengeschichte: da Gott den Menschen schuf, schuf er ihn im Ebenbilde Gottes — darin ist die Summe der Thora enthalten.“ Und die Mischnah sagt es im folgenden Gleichnis: „Demgemäss ist ein einziger Mensch zu Anfang der Welt erschaffen worden, um dadurch zu lehren, dass man jedem, der auch nur eine einzige Seele vernichtet es anrechnet, als ob er eine volle Welt vernichtet hätte, und dass man jedem, der auch nur eine Seele erhält, es anrechnet, als ob er eine volle Welt erhalten hatte.“ So gewinnt des Menschen Leben seinen wahren Wert und das Wort „Du sollst nicht töten“ seine volle Berechtigung. Darin liegt die Absage an jede Tötung eines Menschen, an jeden Krieg, unter welchem Vorwand auch immer. Die Endzeit ist in der jüdischen Vor­stellung durch nichts so sehr charakterisiert als durch das Fehlen jeder Gewalttat. „Sie werden ihre Schwerter zu Pflügen umschmieden und ihre Spiesse zu Winzermessern. Kein Volk wird mehr gegen das andere das Schwort erheben und nicht mehr werden sie den Krieg erlernen.“ Das Ziel aller Jüdischen Politik war das Friedensreich für alle Völker der einigen Menschheit. Der König, den Israel ersehnt, ist ein anderer, als ihn die anderen Völker haben, ein anderer, als ihn einst die Juden vor drei Jahrtausenden von Samuel verlangt haben und vor dem Samuel sie gewarnt hat. „Gerecht ist er und hilf­reich. Demütig ist er und reitet auf einem Esel. Er rottet die Streitwagen aus Ephraim aus und die Rosse aus Jerusalem. Auch die Kriegsbogen werden zerbrochen werden und er bringt den Völkern Frieden.“

In den letzten Jahrzehnten ist ein Prozess der Auflösung im Judentum vor sich gegangen und es bot wie andere Völker und Religionen den Anblick der Zersetzung seiner alten moralischen Kraft und seiner Abwendung von jeder Gewalt. Es hat zum Teil vom modernen Europa und seinen National­staaten nicht nur das Gute übernommen, sondern auch deren Glauben an Gewalt und Macht, deren Wertmassstäbe. Aber wie in anderen Völkern und Religionen beginnt sich auch in ihm wieder eine Umkehr zu vollziehen und die neuen Lehren, die es findet, sind nichts als seine Bestätigung des Inhaltes, der durch viele Jahrhunderte sein Leben bestimmt und erfüllt hat. 

Hans Kohn, Judentum und Gewalt. In: Kobler, Franz (Hg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus, Zürich und Leipzig 1928 185-190.

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aus: Kohn, Hans / Weltsch, Robert: Zionistische Politik : eine Aufsatzreihe, Mährisch-Ostrau 1927


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