Die Bedeutung des Landes Israel für das Judentum

Yeshayahu Leibowitz

Das Land Israel ist nicht die Wiege des Judentums oder des jüdischen Volkes, sondern nach jüdischem Verständnis eine Aufgabe, die dem Judentum in allen seinen Generationen auferlegt wurde.

Diese Aufgabe besteht nicht in der Herrschaft über das Land, sondern in der Erfüllung der Thora im Land.

Die Unabhängigkeitsrolle des Staates Israel fängt mit einer Lüge an: „Im Lande Israel entstand das jüdische Volk.“ Das jüdische Volk entstand nicht im Land Israel, sondern zog als bereits fertiges Volk in es ein. Das traditionelle historische Bewußtsein des Judentums sieht den Anfang, des Volkes symbolisiert in Abraham, als dieser im Irak (vgl. Genesis/1 Mose 11, 31ff) seinen Schöpfer erkennt. Die tatsächliche Volkwerdung („Am heutigen Tag bist du ein Volk des Herrn, deines Gottes, geworden (Deuteronomium 27,9), die anläßlich des Bundesschlusses in der Wüste, im Niemandsland, geschah, vollzog sich, wie wir gelernt haben, ebensowenig im Lande Israel. Die Thora wurde im Ausland gegeben. Überhaupt verbrachte das jüdische Volk den größten Teil seiner Existenz in der Geschichte im Ausland. Die Zeit der seelischen Größe und der größten geistigen Produktivität war die Zeit des Exils.

Ohne die Aufgabe des Haltens der Thora hat der Besitz des Landes keine religiöse Bedeutung. Die Geschichte zeigt uns, daß das Volk in seinem Land leben und doch der Prophet es so beschreiben kann: „Aber als ihr hineinkamt, machtet ihr mein Land unrein und mein Eigentum mir zum Greuel (Jeremia 2,7).“ Und der Zeitgenosse dieses Propheten äußerte sich so: „Das Haus Israel wohnte in seinem Lande und machte es unrein mit seinem Wandel und Tun (Hesekiel 36,17).“

In der Realität des historischen Judentums, das sich um die Thora und ihre Gebote drehte, hat das Land keine zentrale Rolle eingenommen, weder in ideeller Hinsicht noch als Motiv zum Handeln. Was „Gebot der Besiedlung des Landes“ genannt wird, gehört zur religiösen Folklore und hatte nur sentimentale Bedeutung. Nur wenige Thoragelehrte haben das Land als etwas dargestellt, das für uns verpflichtend wäre, und ihnen sind die Massen der Gläubigen Israels, die in allen Generationen das Judentum im Exil aufrechterhalten haben, auch niemals nachgefolgt.

Die Bedeutung des Landes Israel für das Judentum als Staat Israel besteht heute darin, daß es die Basis und der Rahmen für die nationale und staatliche Unabhängigkeit des jüdischen Volkes ist. Ihm ist die Erfüllung der Thora aufgetragen. Der Besitz des Landes als solcher hat keinen religiösen Wert.

Quelle: Yeshayahu Leibowitz, Emuna, Historia WeArachim, Jerusalem 1982, Seite 119 // Übersetzung aus: „Sonderheft israel & palästina“ (Mathias Morgenstern)


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