Von Lise J. Abid
Das Verhältnis der internationalen Gemeinschaft zu den Muslimen entwickelte sich eher ambivalent: da stand plötzlich die Frage im Raum, ob die Welt nun doch auf einen „Kampf der Kulturen“ zusteuert, und es wurde klar, dass allein mehr Informationen und Dialog, mehr Verständnis füreinander einen solchen vermeiden können. In der Folge entwickelte sich einerseits eine bessere interreligiöse Gesprächsatmosphäre, andererseits tauchten auch wieder Klischee-beladene Schlagworte und Vorstellungen auf. Der Grund dafür ist häufig ein Informationsdefizit, und das kann zu Pauschalverurteilungen führen.
Dschihad und Scharia
Begriffe wie Dschihad oder Scharia werden von Nichtmuslimen oft missverstanden, leider aber auch von einzelnen muslimischen Personen oder Gruppen sowie von manchen Politikern in einer Weise missbraucht, die ihre ursprünglichen Ziele pervertiert und ihrem religiösen Sinn Hohn spricht.
Nichts kann einen solchen Missbrauch oder gar terroristische Auswüchse rechtfertigen. Nicht die Religion des Islam begünstigt diese, sondern das Gefühl vieler Muslime, an den Krisenherden der Weltpolitik ebenso übervorteilt zu werden wie durch das Weltwirtschaftssystem. Soziale Spannungen und politischer Totalitarismus haben aber auch im Inneren der islamischen Welt Herde von Gewalt entstehen lassen. Doch nicht selten ist es der Westen selbst, der muslimischen Gesellschaften Regime verordnet, die sie nie gewählt haben – und die sie auch nicht abwählen können, weil eben jene Regime vom Westen gestützt werden. Wenn solche Gebiete dann noch durch „Reißbrett-Grenzen“ kolonialen Ursprungs begrenzt oder durchschnitten werden, die sozio-kulturelle Gegebenheiten außer Acht lassen, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Unter diesen Umständen sollte man sich nicht darüber empören, dass die islamische Welt noch immer nicht die Demokratie „gelernt“ hat – vor allem wenn man bedenkt, dass die Demokratie in vielen europäischen Ländern nicht viel älter als ein halbes Jahrhundert ist.
Friedensbemühungen
Das sollte aber den Muslimen nicht als bequeme Ausrede für all ihre Verfehlungen und Versäumnisse dienen. Heute liegt es auch an ihnen selbst, sich als konstruktiver Faktor in die internationale Gemeinschaft einzubringen, in einen echten „Dialog der Zivilisationen“ einzutreten und weltweite Friedensbemühungen zu unterstützen. Nicht wenige Muslime haben dies erkannt und nehmen eine selbstkritische Haltung ein. Der Islam muss aus seinen Grundlagen heraus gangbare Alternativen erarbeiten und dadurch seinen Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit leisten. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass sich in der Frühzeit des Islam basisdemokratische Ansätze finden, aus denen moderne demokratische Modelle für die muslimischen Länder entwickelt werden müssten.
Ziel der nachfolgenden Betrachtung ist nicht eine politische Analyse von Konfliktursachen. Es soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, ob die islamische Religion ein Faktor zur Förderung des Friedens sein kann. Unter allen Weltreligionen hat ja gerade diese jüngste den Ruf, militant und kriegerisch zu sein – wurde sie doch „mit Feuer und Schwert“ verbreitet und ruft sie doch zum Kampf gegen „Ungläubige“ auf – oder?? Gibt es noch eine andere Perspektive?
Islam heißt Friede
Es gibt sie, und sie findet sich schon im eigentlichen islamischen Selbstverständnis, denn das Wort „Islam“ trägt in seiner Wurzel die Bedeutung „Frieden“ in sich. Die arabische Wortwurzel s-l-m steht für „wohlbehalten, in Sicherheit“, eben „in Frieden sein“. Auch das Wort Salam, Friede, ist daraus gebildet. Islam ist das Friedenmachen durch Hingabe an Gott: ein Muslim, der sich Hingebende, findet dadurch Frieden mit sich selbst, seinen Mitmenschen und mit der gesamten Schöpfung.
Salam alaikum
„Friede sei mit euch!“ ist der traditionelle muslimische Friedensgruß, mit dem sich nach dem Beispiel des Propheten die Muslime überall auf der Welt begrüßen. Und es ist bezeichnend, dass Mohammed nicht nur Muslime so begrüßte. Als ein Gefährte ihn fragte, was im Islam am besten sei, entgegnete er: „Dass du den Armen speist und den Friedensgruß entbietest dem, den du kennst und dem, den du nicht kennst.„1 Der Friedensgruß hat auch eine rituelle Funktion: nach jedem der fünf täglichen Pflichtgebete wenden die Muslime den Kopf nach rechts und links und entbieten den Friedensgruß der ganzen Schöpfung.
Das koranische Friedensideal
Das koranische Friedensideal basiert auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit. „Gott lädt ein zum Haus des Friedens“, heißt es im Koran (Sure 10: Vers 25). Mancher Islam-Wissenschaftler mag nun den Zeigefinger erheben und auf die klassischen islamischen Staatstheoretiker verweisen: da gibt es doch auch ein Dar al-harb, das „Haus des Krieges“ ‑ nämlich alles Territorium außerhalb der islamischen Welt ‑ das klingt bedrohlich. In der Tat spielte diese Vorstellung von einer Welt des Islam (Dar al-Islam) und einer ihr feindlich gesinnten Außenwelt in der islamischen Staatsrechts lehre eine nicht unbedeutende Rolle und manifestierte sich auch in der Geschichte. Dann gab es aber noch das Gebiet, in dem diese beiden Antagonisten auf vertraglicher Basis friedliche Beziehungen pflegen konnten: Dar as‑sulh, das „Haus des (politischen) Friedens“. Dieser Vertragszustand wird heute durch die diplomatischen Beziehungen repräsentiert. Nur dort, wo keine bestehen, sind möglicherweise feindselige Handlungen zu gewärtigen. „Gott verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Heimstätten vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Allah liebt die Gerechten. “ (Koran, 60:7) ‑ Denn, so wird vorausgeschickt: „Vielleicht wird Allah Zuneigung setzen zwischen euch und denen unter ihnen, mit denen ihr in Feindschaft lebt.“ (60:6)
Kriegerische Verse
Gewiss, der Koran enthält eine ganze Reihe von Versen, die sehr kriegerisch tönen. Jedoch muss man den historischen Hintergrund kennen, um sich darüber ein Urteil zu bilden. Unmittelbarer Anlaß für ihre Offenbarung war die akute Bedrohung der damals noch kleinen und schwachen muslimischen Gemeinde, die der Prophet Muhammad in Medina gegründet hatte ‑ eine Bedrohung, die von den heidnischen Arabern in der reichen Pilger‑ und Handelsmetropole Mekka ausging. Der entscheidende Überlebenskampf des frühen islamischen Stadtstaates von Medina wurde gegen diesen Widersacher geführt. Christliche Gemeinden gab es damals nicht im näheren Umfeld der Stadt des Propheten, und zu Auseinandersetzungen mit jüdischen Stämmen kam es nach anfangs guten Beziehungen nur deshalb, weil die Muslime Vertragsbruch befürchteten und das noch heidnische Mekka die Juden zu Verbündeten gegen die Muslime zu gewinnen suchte. Die grundsätzliche Einstellung des Islam gegenüber anderen Religionen ist jedoch im Koran klar niedergelegt: „Wahrlich, die Gläubigen und die Juden und die Christen und die Sabier (Johanneschristen, Sabäer ?) ‑ wer immer wahrhaft an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag und gute Werke tut ‑ sie sollen ihren Lohn empfangen von ihrem Herrn, und keine Furcht soll über sie kommen, noch sollen sie trauern.“ (2:62, ähnlich in 5:69).
Kein Auftrag zur Gewalt
Von einem Auftrag zur Verbreitung des Islam durch Gewalt und Krieg kann keine Rede sein: „Es sei kein Zwang im Glauben.“ (2:256) Der Prophet wird sogar von Gott gewarnt: „Und wenn dein Herr gewollt hätte, würden die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig werden. Willst du nun die Menschen dazu zwingen, dass sie glauben?“ (10:99).
Tradition der Gewaltlosigkeit
Zur Frage, ob der Islam eine Tradition der Gewaltlosigkeit kenne, ist bisher auch von muslimischer Seite viel zu wenig geforscht worden. Tatsache ist, dass der Prophet Mohammed nach Empfang der ersten Offenbarung ca. im Jahre 570 aktive Gewaltfreiheit lebte. Während der ersten Periode seiner Sendung bekam er nicht nur schlimmste Beleidigungen zu hören, sondern war auch Drohungen und massivem Druck ausgesetzt und mit tätlichen Attacken seitens der Aristokratie von Mekka konfrontiert. Nachdem er mit der öffentlichen Verkündigung seiner Lehre begonnen hatte, wurde er beschimpft, attackiert und mit Unrat und Steinen beworfen – trotz seiner bisher geachteten Stellung in der mekkanischen Gesellschaft, in der er als „al-Amin“ (der Aufrichtige, Zuverlässige) bekannt war. In der Handels- und Pilgermetropole Mekka waren es zuerst vor allem die Randgruppen, die sich ihm anschlossen: Sklaven, arme Leute, Jugendliche und Frauen – letztere oft gegen den Willen ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder. Die Vornehmen Mekkas, die um ihre Privilegien fürchteten, erwirkten einen Boykott der Muslime. Die kleine Gemeinde musste außerhalb von Mekka in der Wüste wohnen und durfte nicht mit lebenswichtigen Gütern versorgt werden, keinen Handel treiben und die Heirat mit ihnen war verboten. Mohammed und seine Anhänger, von denen in dieser Zeit nicht wenige gefoltert und getötet wurden, ertrugen diesen Zustand mit Geduld, in Würde und ohne Gegenwehr. Eine kleine Gruppe von Muslimen wanderte damals auf Anraten des Propheten nach Abessinien aus, wo sie vom Negus, dem christlichen König, freundlich aufgenommen wurden. Unter ihnen war auch eine Tochter Mohammeds und deren Ehemann.
Ungefähr 12 Jahre dauerte diese harte Zeit der Prüfungen und des Exils. Es ist die klassische Periode muslimischer Gewaltlosigkeit. Aber auch nach der Auswanderung des Propheten nach Medina im Jahre 622 änderte der Islam nicht sein Gesicht. Mohammed war als Friedensstifter nach Medina gerufen worden und er schaffte es tatsächlich, die dort lebenden verfeindeten Stämme zu versöhnen. Er verfasste ein Dokument, dessen Text bis heute erhalten ist und das wohl als eine der ältesten geschriebenen Verfassungen gelten kann. Darin erhalten Muslime und Andersgläubige – vor allem die in und um Medina lebenden Juden – gleiche Rechte und Pflichten.
Mekka gegen Medina
In den folgenden Jahren musste sich die Gemeinschaft von Medina gegen ständige Angriffe von Armeen aus dem feindlichen Mekka zur Wehr setzen. Über die Behandlung von Kriegsgefangenen gibt es aus dieser Zeit wichtige Dokumente, die für sich selbst sprechen. Als die zahlenmäßig weit unterlegenen Muslime die bestens gerüsteten Angreifer bei den Brunnen von Badr in die Flucht schlugen und Gefangene nahmen, verlangten sie von diesen ein bemerkenswertes Lösegeld: jeder des Lesens und Schreibens Kundige musste zehn Muslime in dieser Kunst unterrichten und ging dann frei! Ähnlich verfuhr der Prophet auch bei späteren Gelegenheiten. Als es Mohammed im Jahre 630 schließlich gelang, die Stadt Mekka kampflos einzunehmen, übte er keine Rache sondern vergab seinen Feinden.
In Arabien hatte der Islam seine rascheste Ausbreitung bereits während des Friedensvertrages von Hudaybiya erfahren. Der Prophet schloss dieses Abkommen mit den Mekkanern sechs Jahre nach seiner Auswanderung. Es war ein Vertrag, der für die Muslime zuerst sehr unvorteilhaft aussah, den sie aber im Gegensatz zu ihren mekkanischen Gegnern strikt einhielten. Vertragstreue ist dem Muslim als heilige Pflicht auferlegt, zahlreiche Koranstellen ermahnen ihn dazu. Diese Verpflichtung gilt auch für jeden einzelnen Anhänger des Islam, der in einem nichtmuslimischen Land lebt. Wenn er in seiner Religionsausübung nicht behindert wird, wenn den Muslimen die Rechte einer Minderheit zugestanden werden, sind sie diesem Staat zur Loyalität verpflichtet. Grundlage ihres „persönlichen Vertragszustandes“ ist damit die Verfassung oder das Grundgesetz des jeweiligen Landes, das ihnen diese Rechte garantiert und ihre Pflichten als Bürger oder Minderheiten festlegt. Daran müssen sie sich halten. I.K. SALEM formuliert dies folgendermaßen: „Die Muslime, die aufgrund einer allgemeinen oder besonderen Bescheinigung der dort etablierten Behörden in gesetzlicher Weise in den ‚Dar al-harb‘ einreisen, haben die Verpflichtung, die Gesetze des Staates, in dem sie sich aufhalten, zu befolgen und in jedem Fall im Rahmen der Bestimmungen des gewährten ‚aman‘ zu handeln.“2 Das Wort ‚aman‘ steht hier für die Sicherheitsgarantien, die ein Staat fremden Staatsbürgern sowie den eigenen Minderheiten gewährt. Repräsentiert werden diese Garantien durch die einschlägigen Gesetze und Verordnungen.
Stellenwert des Dschihad
Welchen Stellenwert hat nun der Dschihad, der angeblich „heilige Krieg“? Die Muslime sind zwar dem Dschihad verpflichtet, aber schon das Wort hat mit Krieg (harb, s. oben) nichts zu tun. Es bedeutet vielmehr „Anstrengung“ für eine gute Sache. Als Einsatz für die Gerechtigkeit kann es auch Verteidigungsanstrengungen bedeuten, und so ist es zu verstehen, wenn dieser Terminus im Koran im Sinne von „Kampf, höchster Einsatz“ verwendet wird. Aus der Zeit des Propheten ist belegt, dass Dschihad keineswegs mit Waffengewalt zu tun haben muss: „Der beste Dschihad ist das Wort der Wahrheit und des Rechts vor einem ungerechten Herrscher“ 3 erklärte Muhammad. Also Einsatz für Redefreiheit und Menschenrechte im weitesten Sinn, und das vor 1400 Jahren! Er definierte ferner einen „großen“ und einen „kleinen Dschihad“. Ersterer ist der Kampf gegen die eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler, gegen Egoismus eben den eigenen ‚Schweinehund‘, wie es HOFMANN4 so plastisch beschreibt. Dagegen gilt der Kampf mit der Waffe nur als „kleiner Dschihad“.
Aggressive Verbreitung des Glaubens?
Dennoch bleibt die Frage nach einer aggressiven Verbreitung des Glaubens, die den Anhängern des Propheten Muhammad oft angelastet wird. Wäre nicht der Dschihad im Verlauf der islamischen Geschichte auch als militärischer Kampf verstanden und praktiziert worden, so würde sich die Diskussion dieses Themas dennoch nicht erübrigen. Denn die Menschheitsgeschichte kennt wohl kaum eine Religion oder Ideologie, die nicht in irgend einer Form als Machtmittel missbraucht worden wäre. Auch die muslimische Welt kann hier keine historische Unschuld beanspruchen. Terror steht jedoch in krassem Gegensatz zu den theologischen Prinzipien des Islam. Es wäre daher unverantwortlich, anti-islamische Stimmungsmache zu betreiben und ein neues „Feindbild Islam“ aufzubauen. Wer Frieden wünscht, schafft sich besser keine Feindbilder. – So gesehen sind die Bemühungen um einen Dialog zwischen den Weltreligionen wahrhafte Friedensarbeit und können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Erlaubnis sich zu verteidigen
Ein Muslim, der es mit den heiligen Texten des Islam genau nimmt, kann immer nur der Zweite sein, der zum Schwert greift: „Die Erlaubnis (sich zu verteidigen) ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah ….“ (Koran 22:39 ) Alle ernstzunehmenden Kommentatoren haben diesen Vers, wo zum ersten Mal in der koranischen Offenbarung von Kampf die Rede ist, als Schlüsselstelle angesehen.5 In ihm ist die Grundvoraussetzung für alle kriegerischen Handlungen niedergelegt: nämlich, dass es sich nur um Verteidigung handeln darf. Sämtliche späteren Verse, die im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen Muhammads mit den heidnischen Mekkanern noch zu diesem Thema geoffenbart wurden, sind an diesen ersten Vers gebunden. Wenn sie auch kriegerisch klingen mögen, sie sind konditionell, d.h. sie sind strikt gebunden an die Grundbedingung, dass vom Feind eine Aggression ausgeht, dass nicht die Muslime diese Aggression begonnen haben.6 Die Widersacher der Muslime hatten es auf die Vernichtung des eben erst entstandenen Stadtstaates von Medina abgesehen – hätte Mohammed und seine Anhänger sich nicht zur Wehr gesetzt, hätten sie von ihren Feinden keinen Pardon erwarten können.
Zweck heiligt nicht die Mittel
Im Islam heiligt der Zweck nicht die Mittel – dies ist ein Grundprinzip. Humanität verlangt der Islam sehr präzise auch für den Kriegsfall: „…und kämpft auf dem Wege Gottes gegen diejenigen, die euch bekämpfen, doch übertretet nicht (das Maß; oder: indem ihr zuerst den Kampf beginnt). Wahrlich, Gott liebt nicht die Übertreter“ (Koran 2:190). Vielleicht ist es deshalb interessant anzumerken, dass in der islamischen Kriegsführung Massenvernichtungsmittel, bei denen Unbeteiligte zu Schaden kommen, verboten sind: der 4. Kalif Ali verbot die unbegrenzte Belagerung einer Stadt, denn die darin befindlichen Zivilisten Hunger und Durst auszusetzen, wäre Sünde. Außerdem untersagte er, feindliche Kämpfer zu verfolgen, die vom Schlachtfeld flüchteten. 7 Immerhin hat diese ethische Grundhaltung dazu geführt, dass von einer islamischen Gelehrtenkonferenz in Pakistan in den siebziger Jahren ein atomarer Erstschlag für nicht statthaft erklärt wurde.
Die frühe islamische Geschichte illustriert auch diese konsequent ethische Haltung der Muslime. Omar, der 2. Kalif, lehnte es ab, in Jerusalem in einer Kirche zu beten, da die Muslime dies als Präzedenzfall nehmen könnten, um Kirchen in Moscheen umzuwandeln! Leider ist man diesem Prinzip in der Geschichte nicht immer treu geblieben: im Zuge der späteren Konfrontation mit dem christlichen Europa wurden sowohl Kirchen zu Moscheen als auch Moscheen zu Kirchen. Der erste Kalif Abu Bakr trug seinen Truppen im Einklang mit den Weisungen des Propheten auf: „Wenn ihr siegreich seid, nützt euren Vorteil nicht aus und hütet euch davor, eure Schwerter mit dem Blut derer zu beflecken, die sich ergeben. Rührt die Frauen nicht an, schont die Kinder und die Kranken. Haut keine Palmen oder Obstbäume um, tötet kein Vieh und zerstört keine Feldfrüchte und Häuser. Zerstört nichts ohne absolute Notwendigkeit. Behandelt die Gefangenen gut … handelt nicht mit Falschheit, sondern seid aufrecht, edel und haltet euer Wort. Stört nicht die Mönche und Einsiedler und zerstört nicht ihre Klausen …“8 – Also keine Politik der „verbrannten Erde“. Und was hätten diese ersten schlichten und volksnahen Kalifen angesichts der Entwicklung der Atombombe gesagt? Sie, die die sinnlose Zerstörung sogar an Tieren und Bäumen verabscheuten – hätten sie sich nicht entsetzt darüber, dass menschliche Gehirne Waffen entwickeln, die lebende Organismen vernichten und die nützliche bauliche Infrastruktur schonen?
Islamische Eroberer
Islamischen Eroberern wird oft zur Last gelegt, sie hätten innerhalb weniger Jahrzehnte Gebiete von Spanien bis Indien und Zentralasien unterworfen. Diese Anschuldigung zieht jedoch die Herrschafts- und auch die sozialen Verhältnisse dieser Länder um die Mitte des 7. Jh. nach Chr. nicht in Betracht. Denn jenen von Römern und Persern de facto kolonisierten Völkern waren die arabischen Muslime gar nicht unwillkommen. Sie standen ihnen durch nachbarliche Beziehungen und ethnische Verwandtschaft näher als die ferne Zentralregierung und wurden weniger als Fremdherrschaft empfunden. Die Syrer hatten sich gegen die seit Alexander verordnete Hellenisierung gesträubt und sympathisierten mit den arabischen Eroberern. 9 Der bekannte Historiker und Biograf Ibn al-Muqaffa schreibt in seinem Buch „Geschichte der Alexandriner Patriarchen“: „Benjamin, der koptische Patriarch, kehrte zurück nach Alexandrien, nachdem er sich dreizehn Jahre vor der byzantinischen Unterdrückung versteckt hatte, nachdem (der muslimische Feldherr) Amr ibn al-‚As für seine Sicherheit garantiert und ihn aufgefordert hatte, die Sache seiner christlichen Gemeinde in die Hand zu nehmen. Klöster, Kirchen und übriges Besitztum der ägyptischen Christen wurden an sie zurückgegeben und nicht angetastet. Sie konnten nach langer Zeit wieder ihren Glauben in voller Freiheit und in einer Zeit des religiösen Friedens ausüben.“
Die Ungläubigen
Belegt ist auch, dass mit den „Ungläubigen“ (Kafir = eigentlich „einer, der die Wahrheit nicht anerkennt“, Plural Kuffar), die im Koran erwähnt sind, keinesfalls Menschen gemeint sein können, die einer Offenbarungsreligion angehören und gemäß ihrem religiösen Verständnis an Gott glauben. 10 Obwohl ausdrücklich nur Juden und Christen im Koran als „Volk der Schrift“ genannt werden, d.h. sich im Besitz von geoffenbarten Texten befinden, ist der Islam in diesem Punkt sehr tolerant. Denn der Bogen möglicher Offenbarungsempfänger spannt sich nach koranischem Verständnis viel weiter: „Und in jedem Volk erweckten wir einen Gesandten, (der da predigte): Dienet Gott und meidet die Götzen“ … (16:36). Muslime müssen daher auch andere Religionsstifter achten, denn möglicherweise waren sie Boten Gottes, wenn auch ihre Schriften oder ursprünglichen Aussagen im Dunkel der Geschichte verloren sein mögen. In der islamischen Literatur wird eine solche Möglichkeit z.B. für Buddha und andere in Erwägung gezogen. Die iranischen Zoroastrier erhielten schon im frühen Verlauf der islamischen Geschichte den Status von Ahl al‑Kitab, „Leuten des Buches“, denen im Avesta möglicherweise eine uralte Offenbarung zuteil geworden war, mochten ihre Lehren auch z.T. verschüttet sein. Dem entsprechend garantiert das islamische Rechtssystem, wo es unverfälscht zur Anwendung kommt, die Rechte der religiösen Minderheiten.
Gott wünscht Frieden
Immer wieder drückt das heilige Buch der Muslime aus, dass Gott Frieden wünscht, und zwar für alle Religionen: „Und wenn Gott nicht die einen Menschen durch die anderen zurückgehalten hätte, so wären gewiß Klausen, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen der Name Gottes häufig genannt wird, zerstört worden. Gott wird sicher dem beistehen, der Ihm beisteht.“ (22:40)
Die Muslime werden ausdrücklich gewarnt: „Lasst nicht durch den Hass anderer euch zu Ungerechtigkeit verführen. Seid gerecht, das ist näher der Gottesfurcht.“ (5:8) Hofmann kommentiert folgerichtig: „Absurd … die Vorstellung, dass der Koran, der die Individualbekehrung zum Islam mit Gewalt ablehnt …, die Massenbekehrung mittels Krieg anstrebe. Angesichts dieser eindeutigen Aussagen des Koran erübrigt es sich, sich mit Irrungen und Wirrungen der islamischen Jurisprudenz des Mittelalters auf diesem Gebiet herumzuschlagen. … Im übrigen hat der Krieg im Zeitalter der ABC‑Waffen und der Hochtechnologie einen Charakter angenommen, der alle früheren theoretischen Erörterungen dazu ‑ sei es durch katholische Scholastiker (Lehre vom gerechten Krieg/justum bellum), sei es durch islamische Rechtsgelehrte ‑ im Zweifel obsolet gemacht hat.“11
Frieden schließen
Klar und deutlich ist dem Muslim ans Herz gelegt, Frieden zu schließen, sobald der Gegner auch nur entfernt dazu bereit ist: „Sind sie aber zum Frieden geneigt, so sei auch du ihm geneigt und vertrau auf Gott; siehe, Er ist der Hörende, der Wissende“ (8:61). – In jedem Falle sind Vernunft und vertrauensbildende Maßnahmen gefordert, um den Frieden herzustellen und zu erhalten.
Eine Quelle von Feindseligkeiten, die gerade heute wieder traurige Aktualität gewonnen hat, lehnt der Islam überhaupt von Grund aus ab: Nationalismus und Rassismus.
Ganz schlicht sagt der Koran (49:13) dazu: „Oh, ihr Menschen, Wir erschufen euch von einem Mann und einer Frau und machten euch zu Völkern und Stämmen, auf dass ihr einander kennen möget. Wahrlich, der Edelste von euch vor Gott ist der Gottesfürchtigste unter euch …„
„Und unter Seinen Zeichen sind die Schöpfung der Himmel und der Erde und die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Darin liegen Zeichen für die Wissenden“ (30:22). Kaum eine andere heilige Schrift hat sich mit solcher Nüchternheit und Klarheit mit dem offensichtlich unterschiedlichen Aussehen und den verschiedenen Sprachen des Menschengeschlechts auseinandergesetzt. Kaum je wurde auch in modernen Texten in so ehrfurchtgebietender Weise und trotzdem bestechender Einfachheit dieses Thema aufgegriffen. Äußere Unterschiede, Lebenseinstellungen, „Mentalität“ und ihr kultureller Ausdruck sind das Allernatürlichste ‑ Anfeindungen deswegen sind unnatürlich. Die einzigen Unterschiede, die zählen, sind moralischer Natur.
„Und wenn Gott gewollt hätte, so hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch wollte Er euch prüfen in dem, was Er euch gegeben hat. Darum wetteifert miteinander im Guten! Zu Gott werdet ihr dereinst zurückkehren, und Er wird euch aufklären über das, worüber ihr uneins seid.“ (5:48)
Praktische Schritte
Berechtigt ist nun die Frage, wie die praktischen Schritte aussehen könnten, die diesen Idealen Rechnung tragen. Alle Religionen sind gleichermaßen gefordert, ihren ethischen Maximen in einer Welt zur Geltung zu verhelfen, in der Erfolg oder Misserfolg einer Gesellschaft in erster Linie am Wachstum des Bruttosozialproduktes gemessen wird.
Auch die Muslime sind aufgerufen, Beispiele humanen Zusammenlebens und sozialen Friedens zu geben. Friedenssuche abseits der großen Politik, im Alltag, am Arbeitsplatz, an den Bildungsstätten, in der Familie und in der Nachbarschaft – das ist die große, wenn auch unspektakuläre Aufgabe, der sich jeder Gläubige widmen kann und soll. In einem wahrhaft humanistischen Appell ruft der Koran alle Menschen guten Willens auf: „Jeder hat ein Ziel, dem er sich zuwendet. So wetteifert miteinander in guten Werken. Wo immer ihr auch seid, Gott wird euch zusammenführen …. (2:148). Für den Muslim ein dauernd gültiger Auftrag, nicht nur ein ökumenisches Wort zu festlichen Gelegenheiten.
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1 Überliefert von Abdullah ibn Omar in den Hadith-Sammlungen von Buchari und Muslim
2 Salem Isam Kamel: Islam und Völkerrecht, Berlin 1984, S. 144-146
3 Überliefert von Abu Said in der Hadith-Sammlung von Tirmidhi und in „Mischkat“
4 Hofmann Murad Wilfried: Der Islam als Alternative, München 1992, S. 191f.
5 Motahari Morteza: Jihad, Teheran 1985, S. 29 u. 34
6 ebd.
7 Schreiner, H.-P/ Becker, K.E. / Freund, W.S.: Der Imam – islamische Staatsidee und revolutionäre Wirklichkeit, St. Michael 1982, S. 24
8 Doi Abdur Rahman: Non-Muslims under Sharia, London 1983, S. 95
9 Cahen Claude: Der Islam. Fischer Weltgeschichte, Frankfurt/M. 1968 u. 1984, S. 22 ebenso in Hitti Philipp K.: History of the Arabs (Kapitel: Conquest of Syria / Conquest of Iraq), London 5. Aufl.1953
10 Khoury Adel Theodor: Religiöse Toleranz in Christentum und Islam. In: Fitzgeral, Khoury, Wanzura (Hg.): Renaissance des Islams, Graz Wien Köln 1980, S. 140
11 HOFMANN, a.a.O., S. 194
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Lise J. Abid, 1949 in der Nähe von Wien geboren, lebte mehrere Jahre in Afghanistan. Später studierte sie Publizistik und Kommunikationswissenschaften und Arabik in Wien. Seit 1993 arbeitet sie als freie Mitarbeiterin beim ORF-Hörfunk. Der Artikel ist zuerst in “Spinnrad. Forum für aktive Gewaltfreiheit”, Heft 1 2002 (hg. vom Internationaler Versöhnungsbund, österr. Zweig ) erschienen. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis der Autorin.