Der Friedensgedanke ergibt sich aus der Grundlehre unserer Religion

Predigt zum Versöhnungstage in der Synagoge zu Bielefeld am 14. Oktober 1929 /

Rabbiner Dr. Hans Kronheim /

Wir glauben an die Zukunft des Menschengeschlechts, glauben an einen Fort­schritt. Wir glauben, daß die Zeit kommen wird, da Gewalt und Unrecht aufhören, und an die Stelle der kriegerischen Auseinandersetzung eine friedliche Verständigung der Völker treten wird. Dem Pessimismus, der da sagt: „Kriege hat es immer gegeben und wird es immer geben“, setzen wir entgegen unsern Glauben an den Sieg des Guten, die Überzeugung, daß die Weltgeschichte ein Ziel hat, und das dieses Ziel der Friede ist. Das Wort für Frieden „Scholaum“ bedeutet „Vollkommenheit“. Die Kultur bleibt unvollkommen, solange nicht Friede ist. Der Priestersegen mündet in das Wort ein, das seinen Höhepunkt bedeutet: „Er gebe dir Frieden“. Kein Segen ohne Frieden.

Und darum klingt uns wie Gotteslästerung das Wort vom „Stahlbad des Krieges“, das ihn feiert als Weg zur Erstarkung und Ertüchtigung. Der größte Teil von uns hat den Krieg miterlebt, und uns überkommt ein Grauen, wenn wir zurückdenken. 12 Millionen Menschen hat dieser Krieg gekostet; die Blüte der Nation wurde dahingerafft. Noch heute liegen sie in den Spitälern und Siechenhäusern, noch heute tragen sie die Wundmale des Mordens und warten auf restlose Erfüllung der Pflichten, die der Staat gegen sie hat. Der Krieg hat die Moral der Menschen erschüttert, hat zur Verrohung der Sitten geführt, Unzählige aus ihrer Bahn geworfen und vor allem die Jugend der Verwahrlosung preisgegeben. Ungeahnte wirtschaftliche Werte sind vernichtet. Ein Mann der Volkswirtschaft hat bereits gegen Ende des Krieges erklärt: „Für das, was dieser Krieg gekostet, hätte man jedem Arbeiter Haus und Garten schaffen können“. Der Krieg hat uns in dies Elend hineingeführt, in dem wir uns heute befinden, seine Nachwehen sind es, an denen wir leiden. Können wir denn anders als Freunde des Friedens sein? Wir, die Bürger einer Zeit, in der man in etwa 20 Tagen die Erde umkreist, in der man mit Gedankenschnelle die Verbindung mit fernen Erdteilen herstellen kann, und in der die Schranken zwischen den Völkern ihre Bedeutung verlieren, und der Weg der Menschen zueinander nicht mehr aufzuhalten ist! Drängt es sich uns nicht auf die Lippen, jenes Gebet: „Der Frieden stiftet in seinen Höhen, er stifte Frieden über uns“!

Der Mensch, der Frieden schafft, vollbringt das Werk Gottes
Gott stiftet Frieden, und der Mensch, der Frieden schafft, vollbringt das Werk Gottes, ist ein Gehilfe Gottes. Wir halten es darum für eine Ehrenpflicht, des Mannes zu gedenken, der die Welt ein großes Stück dem Frieden nähergebracht und vor kurzem das Zeitliche gesegnet hat [Außenminister Stresemann, 1878—1929]. Mit reichen Gaben des Geistes und Gemütes ausgestattet, hatte er aus kleinen Verhältnissen heraus den Weg zur Höhe gefunden, war seinem Volke ein Führer geworden in einer Zeit der Zerrissenheit im Innern und der Bedrohung von außen. Aber die wahre Größe verleiht es ihm, daß er seine überlegenen Fähigkeiten in den Dienst des Friedens gestellt hat. Er hatte die Kraft, sich in den entscheidenden Augenblicken von den Fesseln der Partei freizumachen und jenen höheren Standpunkt zu gewinnen, den jeder einnehmen muß, der zum Frieden führen will. Er besaß die Kunst, Gegensätze auszugleichen und die Auseinanderstrebenden zu vereinen. Er war ein Meister der Versöhnung. Deutschland klagt um seinen großen Sohn und mit ihm trauert Europa, trauert die Welt um den, der für sie um den Frieden gerungen hat. Erhebend war es in unserem Schmerze zu hören, wie die Stimmen der Völker bei Freunden und Gegnern zusammenklangen zu seinem Ruhm. Keines der Zeugnisse aber war ehrender, treffender als das Wort, mit dem der Führer eines großen Volkes sein Leben umschreibt: „Heldentum des Friedens“! Sein Vermächtnis hüten, heißt für den Frieden wirken.

Optimismus, der die Tat fordert – Was kann der Einzelne tun?
Unsere Religion lehrt uns den Optimismus, der die Tat fordert. Wer resigniert, mag die Welt sich selber überlassen, er wird Chaos ernten. Heute tobt der Streit um die Kriegsschuld­fra­ge. Hüten wir uns davor, daß wir über der Erörterung der alten Schuld eine neue auf uns laden. Es gibt eine Schuld der Fahrlässigkeit; sie liegt darin, daß man sich treiben und die Dinge gehen läßt, und wenn man die Einsicht in die Wahrheit hat und nichts zu ihrer Verwirklichung tut, dann ist die Schuld um so größer. Es gilt. nicht für den Frieden zu schwärmen und sich für ihn als Idee zu beigeistern, sondern zu handeln.
Die Verhältnisse drängen, es ist keine Zeit zu verlieren. Viel Zündstoff lagert in der Welt. Schon spricht man von dem großen Kriege, der kommen muß. Er soll hervorgehen aus dem Gegensatz zwischen dem großen Reiche im Osten, das mit seinen Ideen die Welt durchdringen und umgestalten will, und den westlichen Völkern, die an ihrer bisherigen Staatsordnung festhalten und sich wehren gegen die Gefahr, die sie bedroht. Und ist jemand unter uns, der sich nicht völlig klar darüber ist, was heute ein Krieg bedeuten würde? Alles, was wir erlebt haben, wird geringfügig sein gegenüber dem fürchterlichen Unheil, das ein kommender Krieg heraufbeschwören wird.
Was kann der Einzelne tun? Wir sind ein mündiges Volk. Die großen Entscheidungen werden nicht mehr wie früher in einer uns unerreichbaren Sphäre getroffen, sondern vom Volk. Das Volk, das ist jeder Einzelne. Er trägt das Geschick des Ganzen in Händen; er gestaltet das Schicksaal seines Landes, er ist verantwortlich. Mag dies ein entscheidender Gedanke sein bei jeder staatsbürgerlichen Handlung, die wir vollziehen: „Sicherung des Friedens“. Dazu kommt noch ein Anderes: Es gibt heute eine Macht, von der wir einen Teil darstellen: und die wir beeinflussen können; das ist die öffentliche Meinung. Sie wird bei einer kommenden Entscheidung eine große Rolle spielen, auf die gilt es zu wirken. Es ist ein dringendes Gebot der Stunde, ein Gegengewicht zu schaffen gegen die kriegerische Gesinnung, die in einem nicht unbeträchtlichen Teil des deutschen Volkes bewußte Pflege findet, und dies Reden in großem volltönenden Worten, dieses Spiel mit dem Kriege, dies Klirren mit der Waffe, mit dem man dem beleidigten Selbstgefühl der Einen schmeichelt, die Anderen einschüchtert und vor allem die ahnungslose Jugend lockt, unwirksam zu machen.   

Friedensbewegung stärken
Es gibt heute eine beachtenswerte Friedensbewegung in der Welt, und sie ist im Wachsen begriffen. An die Spitze dieser Bewegung sind neuerdings die Religionen getreten. Wer hätte auch mehr Anlaß und wer wäre geeigneter für den Frieden zu werben als die Religion. Keine Interessengemeinschaft, keine wirtschaftliche Organisation, kein politischer Verband vermag die Friedensidee so völlig rein zu vertreten, da ihre Anteilnahme an der Bewegung nur aus einem engeren Gesichtspunkt sich ergibt. Die Religion, die allein den Blick von der Enge des Irdischen ablöst und sich an Gott zurechtfindet, ist frei und ungebunden. Sie ist die berufene Verkünderin des Friedens. Schon hat sie zu lange geschwiegen und sich den politischen Belangen des Staates dienstbar gemacht. Aus dieser Einsicht heraus haben die großen Bekenntnisse der Welt sich zu einer Arbeitsgemeinschaft für den Frieden zusammengeschlossen. Sie tagen in einem Weltfriedenskongreß. Auch in Deutschland ist eine Arbeitsgemeinschaft der Konfessionen für den Frieden entstanden, die unsere Gemeinschaft mit den beiden anderen Bekenntnissen vereint sieht. Es ist ein „Jüdischer Friedensbund“ begründet worden, der alle Kräfte innerhalb des Judentums für den Frieden sammeln will. Hier ist die Möglichkeit, sich zu betätigen, damit unsere Stimme nicht fehle in der großen Symphonie des Friedens.
„Der Frieden stiftet in seinen Höhen, er stifte Frieden über uns und über ganz Israel“ so schließen wir Israel in dieses Gebet ein. Groß sind die Gegensätze innerhalb unserer Gemeinschaft, und wenn uns schon dünkt, als wollten sie sich mildern, treten sie mit erneuter Heftigkeit und Schärfe hervor. Schon bricht der alte Bruderzwist wieder los und nimmt Formen an, die bedenklich erscheinen müssen. Was ist das für ein Kampf, in dem man sich nicht scheut, den Andersdenkenden Lügen zu strafen, seine ehrliche Gesinnung anzuzweifeln und ihn vor der Öffentlichkeit bloßzustellen? Wir sind eine Minderheit, deren Bestand von außen schwerbedroht ist. Sollten wir uns nicht auf das Gemeinsame besinnen, das Verbindende in den Vordergrund rücken, statt die geringen Kräfte in einem Kampf gegeneinander zu verzetteln, uns zu schwächen und der Welt das unwürdige Schauspiel des Streites in unseren Reihen zu geben? Heute wehrt man sich förmlich gegen jede Befriedung. Wie unsagbar schwer haben es oft diejenigen, die versuchen zu überbrücken und wie werden sie befehdet. Sie müssen jenen hohen Mut haben, der sich der Verkennung aussetzt. Denn es liegt in der Natur der Sache, daß, wer vermitteln will, am Ende als lau, halb und schwach gesehen und als verkappter, heimlicher Freund der Gegenpartei verleumdet wird von denen, die allein als die Entschiedenen, Unentwegten, als die echten Träger der reinen Idee sich empfehlen, von denen, die immer nur einen „Standpunkt“ haben und darüber vergessen, den Schritt vorwärts zu tun, den die Welt bereits getan hat. Sie wissen nicht, daß das Leben eine neue, höhere Synthese fordert, in der verbunden erscheint, was gestern noch feindlich gegeneinander stand und als unvereinbar galt. Es ist eine Gunst der Stunde, wenn sich eine Möglichkeit bietet, ohne Opfer der Überzeugung eine Annäherung zu vollziehen. Mögen wir immer das Gebot des Lebens hören und wieder von ganzem Herzen beten lernen: „Der Friede stiftet in seinen Höhen, er stifte Frieden über uns und über ganz Israel‘ Und sprechet Amen. Es ist das Amen, das jeder in seinem Herzen sprechen soll. Alle Liebe zum Frieden bleibt Stückwerk, wenn sie nicht auch das persönliche Leben des Einzelnen erfüllt und adelt. Hier vor allem kann die Friedensliebe sich unmittelbar betätigen. Darum beten wir zu Gott um Frieden für die Welt und für Israel. Und es ist eine Gnade, wenn er uns Sendboten des Friedens erstehen läßt, Führende, die um den Frieden für die Welt und die Gemeinschaft ringen.


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